Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Vereinsmeier mehr werden. Er brachte sein Haus in Ordnung, doch er konnte sich nicht dazu überwinden, das Zimmer seiner Frau auszuräumen. Er kochte sich karge Mahlzeiten, machte lange Spaziergänge, ging ins Kino und in die Bücherei und hörte Radio. Als Methodist ging er jeden Sonntag zur Kirche. Er wollte sich erst der Männergruppe anschließen, konnte sich dann aber doch nicht dazu durchringen und nahm stattdessen an den Bibelstunden teil, was ihm eher lag.
Es scheint eine Art Naturgesetz zu sein, dass ein einsamer Witwer immer eine Frau findet, die ihn tröstet. Wenn kleine Kinder bei ihm leben, hat er sogar eine noch günstigere Ausgangsposition. Eine einsame Witwe hingegen hat keinen vergleichbaren natürlichen Vorteil. Die Gesellschaft meidet sie zwar nicht gerade, aber man vermittelt ihr meist, dass sie auf irgendeine Weise übrig geblieben ist. Eine einsame Witwe ist für gewöhnlich nicht von Männern umgeben, die ihr um jeden Preis ihre Liebe schenken und ihr Gefährte sein wollen. Wenn sie Kinder hat, nehmen Männer üblicherweise Reißaus. Sie kämpft darum, sich selbst und ihre Kinder durchzubringen, und meist besteht ihr Leben aus kaum mehr als endloser harter Arbeit.
Winnie war schon länger allein, als sie sich vor Augen führen wollte. Ihr junger Ehemann war schon in den ersten Monaten des Krieges ums Leben gekommen und sie war mit drei Kindern zurückgeblieben. Die magere staatliche Rente reichte kaum für die Miete, geschweige denn, dass sie sie für den Verlust ihres Mannes entschädigte. Sie fand eine Stelle in einem Zeitschriftenladen. Die Arbeitszeit war lang – von fünf Uhr morgens bis halb sechs abends – und die Arbeit anstrengend. Sie stand jeden Morgen um halb fünf auf, um rechtzeitig im Laden zu sein und die Zeitungen anzunehmen, zu sortieren, auszupacken und einzuräumen. Ihre Mutter kam jeden Morgen um acht, um die Kinder zu wecken und zur Schule zu schicken. Sie waren also etwa vier Stunden lang allein, aber dieses Risiko musste sie eingehen. Winnies Mum schlug vor, sie könnten doch alle bei ihr einziehen, aber Winnie legte großen Wert auf ihre Unabhängigkeit und lehnte ab, außer – wie sie sagte – »für den Fall, dass ichs einfach nich mehr pack.« Doch so weit kam es nicht. Winnie war der Typ Frau, der es immer irgendwie packte.
Sie lernten sich im Zeitschriftenladen kennen. Winnie hatte Ted schon seit mehreren Jahren bedient, aber er war ihr unter all den Kunden nie sonderlich aufgefallen. Erst als er anfing, sich länger im Laden herumzutreiben, als nötig gewesen wäre, um die Morgenzeitung zu kaufen, fiel er ihr und den anderen Verkäuferinnen auf. Er kaufte seine Zeitung, sah sich dann eine andere an, warf anschließend einen Blick auf das Regal mit den Zeitschriften und manchmal kaufte er sogar eine. Dann nahm er eine Tafel Schokolade, drehte und wendete sie in seiner Hand, seufzte, legte sie wieder zurück und kaufte stattdessen ein Päckchen Zigaretten. Die Verkäuferinnen sagten zueinander: »Irgendwas stimmt mit dem alten Knaben nich.«
Eines Tages, als Ted gerade wieder eine Tafel Schokolade in der Hand hielt, ging Winnie zu ihm hin und fragte ihn freundlich, ob sie ihm helfen könne.
Er sagte: »Nein, Schätzchen. Du kannst nichts für mich tun. Meine Frau hat immer die Schokolade hier gemocht. Ich hab sie ihr immer gekauft. Letztes Jahr is sie gestorben. Danke, dass du gefragt hast, Liebes.«
Da sahen sie einander voll Mitgefühl und Verständnis in die Augen.
Danach versuchte Winnie immer, ihn selbst zu bedienen. Eines Tages sagte Ted: »Ich wollte heut Abend ins Kino. Wie wärs, wenn du mitkommst – wenn dein Mann nix dagegen hat.«
Sie sagte: »Ich hab keinen Mann un ich komm gern mit.«
Eins führte zum anderen und es war noch kein Jahr vergangen, als er sie fragte, ob sie ihn heiraten wolle.
Winnie dachte eine Woche darüber nach. Er war über zwanzig Jahre älter als sie. Sie mochte ihn, aber sie war nicht richtig verliebt. Er war freundlich und nett, aber kein aufregender Mann. Sie fragte ihre Mutter und das Ergebnis dieser Beratung unter Frauen war, dass sie seinen Heiratsantrag annahm.
Ted war außer sich vor Freude und sie heirateten in der methodistischen Kirche. Er wollte mit seiner jungen Braut nicht in dem Haus leben, das er so lange mit seiner ersten Frau geteilt hatte, also kündigte er und zog mit ihr in ein anderes Reihenhaus. Winnie konnte aus der winzigen billigen Wohnung, in der sie ihre Kinder aufgezogen hatte,
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