Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Glücklicherweise bekam Chummy von diesen Geschichten und Streichen nie etwas mit. All das ging einfach unbeachtet an ihr vorbei. Wäre ihr davon etwas zu Ohren gekommen, so hätte sie die Quälgeister wahrscheinlich aus schlichtem Unverständnis freundlich angestrahlt und ihnen durch ihre Arglosigkeit die Schamesröte ins Gesicht getrieben.
Chummys erster Auftritt in der Welt der Geburtshilfe war nicht von dem gleichen Erfolg gekrönt, doch kaum weniger spektakulär. Es dauerte einige Tage, bis sie sich in unserem Bezirk bewegen konnte. Erstens passte ihr die Hebammentracht nicht. »Macht nichts, ich nähe sie mir selbst«, sagte sie fröhlich. Schwester Julienne bezweifelte, dass ein Schnittmuster aufzutreiben sei. »Keine Sorge, ich kann ja aus Zeitungspapier eins anfertigen.« Zu unser aller Erstaunen konnte sie das. Stoff wurde besorgt und im Nu waren ein paar Kleider fertig.
Mit dem Fahrrad war es nicht ganz so einfach. Bei all der gehobenen Erziehung und den einer Dame angemessenen Fertigkeiten hatte niemand je daran gedacht, ihr das Fahrradfahren beizubringen. Reiten selbstverständlich, aber nicht Radfahren.
»Macht nichts, das kann ich ja lernen«, sagte sie fröhlich. Schwester Julienne fand, es sei für eine Erwachsene schwierig, das nachzuholen. »Keine Sorge, ich kann ja üben«, lautete ihre immer noch unbekümmerte Antwort.
Cynthia, Trixie und ich gingen mit ihr zum Fahrradschuppen und suchten uns das größte Exemplar aus – ein riesiges, altes Raleigh-Rad, Baujahr etwa 1910, ganz aus Eisen, mit einem Rahmen für Damen und hoher Lenkstange. Die massiven Reifen waren etwa sieben Zentimeter dick und es gab keine Gangschaltung. Das ganze Ding wog ungefähr eine halbe Tonne – aus diesem Grund benutzte es niemand. Trixie ölte die Kette und schon waren wir bereit.
Es war kurz nach dem Mittagessen. Wir nahmen uns vor, Chummy die Leyland Street hinauf und hinunter zu schieben, bis sie ein Gefühl für das Gleichgewicht bekommen hatte. Anschließend sollte es im Konvoi dorthin gehen, wo es ruhige, ebene Straßen gab. Die meisten Menschen, die erst als Erwachsene Fahrradfahren zu lernen versuchten, werden bestätigen, dass es eine schreckliche Erfahrung ist. Viele halten es für unmöglich und geben auf. Doch Chummy war aus härterem Holz geschnitzt. Ihre Ahnen hatten das britische Empire errichtet und in ihren Adern floss deren Blut. Außerdem wollte sie Missionarin werden und dazu musste sie zunächst Hebamme sein. Wenn Fahrradfahren dazugehörte – so sei es. Sie würde die Sache schon schaukeln.
Wir schoben sie und sie schwankte in ihrer ganzen Größe hin und her. »Treten, treten, treten. Weiter, weiter«, riefen wir, bis wir nicht mehr konnten. Sie bestand aus fünfundsiebzig Kilo Knochen und Muskeln und das Fahrrad wog auch noch einmal vierzig, aber wir schoben weiter. Um vier Uhr war in der Schule vor Ort der Unterricht zu Ende und die Kinder strömten nach draußen. Etwa zehn von ihnen übernahmen unsere Aufgabe und gönnten uns Mädchen eine wohlverdiente Pause. Sie liefen neben und hinter dem Fahrrad her, schoben und riefen aufmunternde Worte.
Mehrmals stürzte Chummy schwer. Sie prallte mit dem Kopf gegen den Bordstein und sagte: »Keine Sorge – kein Hirn, das Schaden nehmen könnte.« Sie riss sich das Bein auf und murmelte: »Nur ein Kratzer.« Sie fiel heftig auf ihren Arm und erklärte: »Ich hab ja noch einen.« Sie war nicht kleinzukriegen. Allmählich hatten wir Respekt vor ihr. Selbst die jungen Cockneys, die sie zunächst als komische Einlage betrachtet hatten, änderten ihren Ton. Ein grobes Bürschchen, das sie zunächst unverhohlen verspottet hatte, betrachtete sie jetzt voll ernster Bewunderung.
Es war nun an der Zeit, sich aus der Leyland Street hinauszuwagen. Chummy konnte das Gleichgewicht halten und treten, also wollten wir eine halbe Stunde lang durch die Straßen fahren. Trixie fuhr voraus, Cynthia und ich links und rechts von Chummy und die Kinder rannten uns schreiend hinterher.
Wir kamen bis ans Ende der Leyland Street, aber keinen Meter weiter. Wir waren nicht auf die Idee gekommen, Chummy zu zeigen, wie man abbiegt. Trixie bog links ab, rief: »Fahr mir einfach nach«, und weg war sie. Cynthia und ich steuerten nach links, aber Chummy fuhr weiter geradeaus. Ich bemerkte ihren starren Gesichtsausdruck, als sie direkt auf mich zukam, dann herrschte Chaos. Ein Polizist war offenbar gerade dabei, die Straße zu überqueren, als wir beide in ihn hineinrasselten.
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