Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
früh zu Mittag und um halb zwei begannen wir, alles für die Untersuchungen vorzubereiten, sodass wir um zwei die Praxis öffnen konnten. Dann arbeiteten wir durch, bis wir fertig waren, und das war oft erst um sechs oder sieben Uhr. Anschließend mussten wir noch unsere Abendbesuche erledigen.
Das machte mir nichts aus – harte Arbeit hat mir noch nie etwas ausgemacht. Was mich wirklich fertigmachte, war, glaube ich, die schiere Menge ungewaschener weiblicher Körper, die ausströmende Wärme und Feuchtigkeit, das endlose Geplapper und vor allem der Geruch. Ich konnte anschließend noch so oft baden und mich umziehen – immer dauerte es ein paar Tage, bis ich den Übelkeit erregenden Geruch von vaginalem Ausfluss, Urin, kaltem Schweiß und ungewaschener Kleidung wieder loswurde. All diese Düfte vermischten sich zu einem heißen, klebrigen Dampf, der alles durchdrang: Kleider, Haare und Haut. Oft war ich während der regelmäßigen Vorsorgesprechstunden so weit, dass ich an die frische Luft gehen musste, wo ich mich würgend über das Geländer an der Tür lehnte, um den Brechreiz niederzuringen.
Doch jede von uns ist anders und ich habe nicht eine einzige Hebamme kennengelernt, die ähnlich zu leiden hatte. Wenn ich davon erzählte, war die Überraschung immer groß: »Was für ein Geruch?«, oder: »Na ja, es wird schon manchmal etwas heiß.« Also redete ich nicht weiter über meine Empfindungen. Ständig führte ich mir vor Augen, wie überaus wichtig die Vorsorgemaßnahmen waren, die so entscheidend dazu beigetragen hatten, dass die Zahl der Todesfälle unter Gebärenden stark gesunken war. Der Gedanke an die Geburtshilfe in früherer Zeit und das endlose Leid von Frauen unter der Geburt gab mir neue Kraft, wenn ich gerade wieder glaubte, ich könne die Untersuchung auch nur einer einzigen weiteren Frau nicht mehr ertragen.
In früheren Zeiten war es normal, dass Frauen während ihrer Schwangerschaft und der Geburt völlig auf sich gestellt waren. In vielen ursprünglichen Gesellschaftsformen galten Menstruierende, Schwangere, Gebärende und stillende Mütter als unrein. Die Frau wurde isoliert und durfte häufig nicht berührt werden, noch nicht einmal von einer anderen Frau. Sie musste all ihre Qualen allein durchstehen. Daher überlebten nur die Gesündesten, und durch die Prozesse der Mutation und der Anpassung wurden erbliche Anomalitäten wie etwa ein Missverhältnis zwischen der Größe des Beckens und dem Kopfumfang des Kindes behoben, vor allem in entlegenen Gegenden der Welt, und so wurde das Entbinden allmählich leichter.
In der westlichen Gesellschaft, die wir Zivilisation nennen, geschah das nicht, und mehr als ein Dutzend mögliche Komplikationen, von denen einige tödlich endeten, kamen zu den natürlichen Gefahrenquellen hinzu: übergroße Bevölkerungsdichte; Infektionen durch Staphylokokken und Streptokokken, andere Infektionskrankheiten wie Cholera, Scharlach, Typhus und Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Rachitis; viele Schwangerschaften in schneller Folge oder die Gefahren infizierten Wassers. Bedenkt man, dass zu all dem noch Vernachlässigung und Gleichgültigkeit gegenüber Schwangerschaft und Geburt kamen, so wird klar, wieso das Kinderkriegen »Evas Fluch« genannt wurde und Frauen häufig mit dem eigenen Tod rechnen mussten, wenn sie neues Leben schenkten.
Die Hebammen des Heiligen Raymund Nonnatus boten ihre Vorsorgesprechstunde in einer alten Kirche an. Heute würde jeder bei dem Gedanken, dass Vorsorgeuntersuchungen mit allem, was dazugehört, in einer alten, entweihten Kirche stattfinden, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und Hygienekontrolleure, Gesundheitskontrolleure und alle möglichen anderen Kontrolleure dieser Welt hätten entschieden etwas dagegen. Doch in den 1950er-Jahren sprach sich niemand dagegen aus, ja, die Nonnen erhielten sogar höchstes Lob für ihren Einfall und die Initiative, die Kirche einem neuen Zweck zuzuführen. Außer der Installation einer Toilette mit fließendem Wasser waren keine Umbaumaßnahmen vorgenommen worden. Heißes Wasser kam aus einem Boiler an der Wand.
Als Heizung diente ein großer Koksofen aus schwarzem Gusseisen, der bereits am Vormittag von Heizer Fred angefacht werden musste. Solche Öfen waren damals weit verbreitet, ich habe sie sogar in Krankenhäusern auf Station gesehen. (Ich erinnere mich an eine Station, wo wir unsere Spritzen und Nadeln sterilisierten, indem wir sie in einem Topf auf dem Ofen auskochten.)
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