Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
müssen. Sie packte eines der Kinder am Arm und zog den Jungen zu sich hin. Sie schlug ihm kräftig auf Wange und Ohr und schrie ihn an.
»Jetzt sei still und benimm dich, du kleiner Scheißer. Und das gilt für euch alle, klar?«
Der Junge heulte vor Schmerz, aber auch wegen der Ungerechtigkeit laut auf. Er entfernte sich etwa zehn Meter von seiner Mutter und schrie und stampfte, bis er kaum noch Luft bekam. Dann hielt er inne, atmete tief ein und heulte wieder los. Die anderen Kinder waren stehen geblieben, einige begannen zu wimmern. Aus dem fröhlichen, wenn auch lärmenden Spiel war von jetzt auf gleich ein Kampf geworden, und das nur wegen dieser dummen Frau. Von da an hasste ich sie.
Ruth, die Novizin, ging zu dem Jungen hin und versuchte ihn zu trösten, doch er schob sie weg und warf sich auf den Boden, wo er schrie und um sich trat. Lil grinste und sagte zu mir: »Lassen Sie ihn nur, er wirds schon verkraften.« Dann rief sie zu dem Kind hinüber: »Halts Maul oder du fängst dir noch eine ein.«
Ich konnte es nicht mehr ertragen, und damit sie nicht noch mehr Schaden anrichtete, sagte ich ihr, dass ich ihren Urin untersuchen müsse, gab ihr ein Töpfchen und bat sie, zur Toilette zu gehen und mir eine Probe zu bringen. Anschließend, so erklärte ich ihr, wolle ich sie untersuchen, daher solle sie sich bitte unterhalb der Taille frei machen und sich auf eine der Liegen legen.
Ihre Pantoffeln klatschten auf den Holzboden, als sie zur Toilette ging. Sie kam kichernd zurück und gab mir die Probe, dann schlappte sie hinüber zu den Liegen. Ich biss die Zähne zusammen. Was hat sie bloß so zu kichern, dachte ich. Das Kind lag immer noch auf dem Boden, doch es weinte nicht mehr so sehr. Die anderen Kinder schauten verdrossen drein und hatten das Spielen aufgegeben.
Ich ging hinüber zu der Arbeitsfläche, um den Urin zu testen. Das Lackmuspapier wurde rot und zeigte damit einen normalen sauren pH-Wert an. Der Urin war trüb und hatte eine hohe spezifische Dichte. Ich wollte seinen Zuckergehalt prüfen und zündete die Gasflamme an. Ich füllte ein Reagenzglas zur Hälfte mit Urin, gab ein paar Tropfen Fehling’sche Lösung hinzu und brachte den Inhalt des Glases zum Kochen. Es war kein Zucker nachweisbar. Zum Schluss musste ich den Urin noch auf Eiweiß prüfen, indem ich das Reagenzglas wieder füllte, diesmal aber nur die obere Hälfte zum Kochen brachte. Er wurde nicht weiß oder dickflüssig, was bewies, dass keine Albuminurie vorlag.
Ich brauchte etwa fünf Minuten für diese Tests. Unterdessen hatte das Kind aufgehört zu weinen. Der Junge saß nun auf dem Boden und Novizin Ruth spielte mit ihm. Sie rollten sich kleine Bälle zu. Ihre feinen, zarten Gesichtszüge wurden durch ihren weißen Musselinschleier noch betont, doch als sie sich vorbeugte, rutschte er herunter. Der Junge schnappte ihn sich und zog. Die anderen Kinder lachten. Sie schienen wieder glücklich. Trotz ihrer groben, brutalen Mutter, dachte ich, als ich zu Lil zurückging, die nun auf der Liege lag.
Sie war fett, ihre wabbelige Haut war schmutzig und feucht vor Schweiß. Ihr Körper roch muffig und ungewaschen. Muss ich sie wirklich anfassen?, dachte ich, als ich näher kam. Ich versuchte mir vor Augen zu führen, dass sie wahrscheinlich mit ihrem Mann und allen Kindern in zwei oder drei Zimmern ohne Bad oder auch nur fließend heißem Wasser lebte, doch das ließ meinen Ekel nicht verfliegen. Hätte sie ihr Kind nicht so herzlos geschlagen, dann wäre meine Abneigung gegen sie vielleicht geringer gewesen.
Ich zog sterile Handschuhe über und bedeckte Lil von der Hüfte abwärts mit einem Tuch, denn ich wollte ihre Brüste untersuchen. Ich bat sie, ihren Pullover hochzuziehen. Sie kicherte und alles an ihr schwabbelte, als sie ihn hochzog. Als ihre Achselhöhlen zum Vorschein kamen, wurde der Gestank intensiver. Zwei große hängende Brüste rutschten links und rechts heraus, und die Adern, die sich zu den riesigen, fast schwarzen Brustwarzen hinzogen, zeichneten sich deutlich ab. Diese Adern waren ein verlässliches Anzeichen einer Schwangerschaft. Ein wenig Flüssigkeit ließ sich aus den Brustwarzen herausdrücken. Das reicht für eine Diagnose, dachte ich. Ich teilte es ihr mit.
Sie lachte schreiend auf. »Habs Ihnen doch gesagt, oder nich?«
Dann maß ich ihren Blutdruck. Er war recht hoch. Sie braucht mehr Ruhe, dachte ich, aber ich bezweifle, dass sie sie bekommt. Die Kinder hatten ihre gute Laune wiedergefunden und
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