Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Spaß vorbei. Er kickte einen Stein vor sich her und schlurfte mit den Händen in den Taschen nach Hause – mit einem Fuß im Rinnstein und dem anderen auf dem Bürgersteig.
Doch es war nicht Chummys Art, eine Freundschaft einfach sterben zu lassen oder Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft nicht zu honorieren. Sie sprach beim Mittagessen mit uns darüber und wir waren uns einig, dass ein Geschenk angebracht war. Die Vorschläge waren zahlreich – ein Glas Süßigkeiten, ein Fußball, ein Taschenmesser –, doch Chummy war mit keiner dieser Ideen zufrieden. Schwester Julienne erläuterte in ihrer pragmatischen und erfahrenen Art, dass sich Jack mit viel Zeit und Einsatz engagiert hatte und dass Chummy deshalb bei ihm in großer Schuld stand.
»Ich denke, dass der Junge nicht mit einer simplen Gabe abgespeist werden sollte. Er sollte vielmehr etwas bekommen, was er sich wirklich wünscht und in Ehren hält. Andererseits entscheiden Sie als Geberin allein, was Sie sich leisten können.«
Chummys Gesicht erhellte sich zu einem breiten Lächeln. »Ja doch, ich weiß, was sich Jack mehr als alles andere wünscht – ein Fahrrad! Und ich bin mir sicher, dass Vater ihm eins kaufen wird, wenn ich ihm die Umstände schildere. Er ist ein feiner alter Kerl und lässt für den guten Zweck gern etwas springen. Ich werde ihm noch heute Abend schreiben.«
Selbstverständlich ließ Vater etwas springen, denn er war froh, dass seine einzige Tochter endlich ihre Erfüllung gefunden hatte. Dass sie so entschlossen Missionarin werden wollte, konnte er ebenso wenig verstehen wie ihre Leidenschaft für die Geburtshilfe, doch er unterstützte sie bei all dem tatkräftig.
Das neue Fahrrad bedeutete für Jack ein neues Leben. Damals besaßen nur wenige Jungen eins, doch für ihn war es mehr als nur ein Statussymbol. Er war unternehmungslustig und ließ auf seinem Fahrrad die Grenzen des East Ends weit hinter sich. Er wurde Mitglied im Fahrradverein von Dagenham und nahm an Wettbewerben im Zeitfahren und bei Straßenrennen teil. Er ging alleine in Essex auf dem Land campen. Er fuhr bis zur Küste und sah zum ersten Mal in seinem Leben das Meer.
Chummy war außer sich vor Freude, besonders weil ihre Freundschaft andauerte. Er glaubte sie offenbar beschützen zu müssen, und so erschien Jack jeden Tag nach der Schule im Nonnatus House, um sie zu ihren Abendbesuchen zu eskortieren. Sein Gespür sagte ihm, dass die Kinder der Docks sie verspotten und ärgern würden, und er hatte recht, denn alles in allem hatten die Cockneys wenig übrig für Chummy und sie lachten hinter ihrem Rücken über sie. Wenn sie mit ihrer schieren Größe auf ihrem altertümlichen Fahrrad mit den massiven Reifen die Straßen entlangradelte, blieben ganze Horden von Kindern stehen, säumten den Bordstein und riefen unter lautem Gelächter »Halloo« oder »Gar nicht so übel« oder »Weiter so, altes Haus«. Außerdem setzten sie noch einen drauf, indem sie sie »Nilpferd« nannten. Die arme Chummy begegnete all dem mit guter Laune, aber wir wussten, wie sehr es sie verletzte. Wenn jedoch der zähe, gewiefte Jack an ihrer Seite war, gingen die Kinder auf Abstand. Wir alle sahen ihn verschiedentlich an Straßenecken oder in den Innenhöfen der Wohnblocks. Mit zwei Fahrrädern, das Kinn vorgereckt und seine kurzen Beine leicht gespreizt, sah er sich mit kühlem Blick um und wusste, dass es nicht mehr brauchte, um »Miss« zu beschützen.
Fünfundzwanzig Jahre später verlobte sich ein schüchternes junges Mädchen namens Lady Diana Spencer mit dem Thronfolger Prinz Charles. Ich habe etliche Filmaufnahmen gesehen, die sie bei der Ankunft bei irgendwelchen Anlässen zeigten. Jedes Mal, wenn das Auto anhielt, öffnete sich die Beifahrertür, ihr Leibwächter stieg aus und öffnete die Tür für Lady Diana. Dann stand er da, das Kinn vorgereckt, die Beine leicht gespreizt, und schaute mit kühlem Blick in die Menschenmenge: ein erwachsener Jack, der tat, was er schon als Kind gut konnte, und seine Dame beschützte.
Vorsorgesprechstunde
Wahrscheinlich gibt es an jedem Beruf Seiten, die man nicht mag. Ich mochte die Vorsorge nicht. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich die Vorsorgesprechstunden hasste und dass mir jede Woche vor Dienstagnachmittag graute. Es war nicht nur die harte Arbeit – obwohl sie allein schon genügte. Die Hebammen versuchten ihren Tag so zu planen, dass wir unsere Morgenbesuche bis zwölf Uhr abgeschlossen haben konnten. Wir aßen
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