Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
durch David. Sie war Musikerin und spielte Geige, aber ich habe sie nie spielen hören.
All diese Fotos zeigte mir David während der beiden Tage an ihrem Bett. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, hielt ich ihn für ihren Vater. Aber er war ihr Ehemann und er liebte sie und hielt noch den Boden heilig, über den sie ging. Er war Wissenschaftler und wirkte wie ein sehr reservierter, unnahbarer Mann, der sich unter Kontrolle hat, fast schon kühl und gefühllos. Doch stille Wasser sind tief und die Intensität seines schmerzlichen Leidens zerriss während dieser beiden langen Tage förmlich das ganze Krankenhaus. Manchmal redete er mit ihr, mal mit sich selbst und ab und zu mit dem Personal. Manchmal murmelte er ein Gebet oder rang vor lauter Tränen mit einzelnen Worten. All diese Bruchstücke sowie ihre Krankenakte fügten sich für mich zu ihrer Geschichte zusammen. David war alles andere als ein kühler, entrückter Wissenschaftler.
Sie hatten sich in einem Musikklub kennengelernt, in dem Margaret damals auftrat. Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Während der Pause und des anschließenden Beisammensitzens ließ er sie nicht aus den Augen. Er ging zu ihr, um sie anzusprechen, doch er stammelte nur und bekam kaum ein Wort heraus. Warum, das verstand er nicht, er war ein wortgewandter Mann. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Sie unterhielt sich weiter mit anderen Leuten und lachte, während er sich in eine Ecke zurückzog und vor lauter Herzklopfen kaum atmen konnte.
Während der folgenden Tage und Wochen ging sie ihm nicht aus dem Kopf. Noch immer verstand er es nicht. Er glaubte, die Musik könnte sein tiefstes Inneres so sehr berührt haben. Er fühlte sich ruhelos und unwohl, und auch sein annehmliches geordnetes Junggesellenleben bot ihm keinen Halt. Dann lief sie ihm in einem Lyons Corner House über den Weg und zu seiner großen Überraschung erinnerte sie sich an ihn, er konnte sich nur nicht vorstellen, warum. Sie aßen zusammen zu Mittag und dieses Mal war seine Zunge nicht gelähmt. Er hörte gar nicht mehr auf zu reden. Stundenlang unterhielten sie sich. Sie hatten sich tausend Dinge zu erzählen und nie in den neunundvierzig Jahren weitgehenden Alleinseins hatte er sich so entspannt und glücklich in der Gesellschaft eines anderen Menschen gefühlt. Er dachte: Sie kann sich doch unmöglich für einen so vertrockneten alten Kauz wie mich interessieren, der nach Formaldehyd und Desinfektionsmittel riecht. Doch so war es. Vielleicht erkannte sie seine Integrität, seine geistige Kraft und die verborgene emotionale Tiefe dieses stillen Mannes. Sie war seine erste und einzige Liebe, er überhäufte sie mit geradezu jugendlicher Leidenschaft gepaart mit der Zärtlichkeit und dem Feingefühl seiner reifen Jahre.
Zu mir sagte er später: »Ich bin einfach dankbar, dass ich sie kennenlernen durfte. Wären wir uns nie begegnet oder hätten wir uns nie näher kennengelernt, dann wären die Weltliteratur, all die Werke der Dichter und die großen Liebesgeschichten für mich bedeutungslos geblieben. Man kann nicht verstehen, was man nicht selbst erlebt hat.«
Sie waren gerade sechs Monate verheiratet und sie war im sechsten Monat schwanger, als sie in der geburtsmedizinischen Station des London Maternity Hospital aufgenommen wurde, wo ich arbeitete. Laut ihrer Patientinnenakte war Margaret während ihrer gesamten Schwangerschaft völlig gesund gewesen. Sie war zwei Tage zuvor in der Praxis untersucht worden und alles war unauffällig – Gewicht, Puls, Blutdruck, Urinprobe, keine Übelkeit – nichts deutete auf das hin, was kommen sollte.
Am Tag ihrer Aufnahme war sie früh wach geworden und hatte sich übergeben, was ungewöhnlich war, denn morgendliche Übelkeit war bereits seit rund acht Wochen nicht mehr aufgetreten. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und erzählte, sie sehe dunkle Flecken. David machte sich Sorgen, doch sie sagte, sie wolle sich einfach wieder hinlegen. Sie habe nur leichte Kopfschmerzen, die sicher vorübergingen, wenn sie noch ein wenig schlafe. Also ging er zur Arbeit und sagte, er werde um elf Uhr anrufen, um zu hören, wie es ihr gehe. Das Telefon läutete und läutete. Er hörte förmlich, wie es durch das Haus hallte. Natürlich konnte sie auch vor die Tür gegangen sein, nachdem sie erfrischt wach geworden war, doch eine böse Ahnung ließ ihn heimfahren.
Er fand sie bewusstlos auf dem Boden des Schlafzimmers, ihr ganzer Mund, die Wangen und ihr Haar waren
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