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Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Titel: Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Worth
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Fabrik, einer Werkstatt oder im Arbeitshaus tätig sein mussten.
    So wuchsen diese Kinder zu Krüppeln heran. Sämtliche Knochen ihres Körpers waren deformiert, die langen Ober- und Unterschenkel krümmten sich unter dem Gewicht des Oberkörpers. Als während der Pubertät das Wachstum endete, verfestigten sich die Knochen in dieser Form.
    Noch heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, kann man einige sehr alte, sehr kleine Menschen umherhumpeln sehen, deren Beine sich nach außen biegen. Es sind die tapferen Letzten ihrer Art, die ein Leben lang gegen die Auswirkungen der Armut und einer gestohlenen Kindheit vor fast hundert Jahren kämpfen mussten.
    Brenda lächelte mich an. Ihr sonderbares Gesicht mit dem seltsam geformten Unterkiefer strahlte vor Vorfreude. Sie wusste, dass ihr ein Kaiserschnitt bevorstand, aber das machte ihr nichts aus. Sie bekam ein Kind und dieses Mal würde es überleben. Das war es, worauf es ihr ankam, und sie war den Schwestern, dem Krankenhaus, den Ärzten – einfach allen – unglaublich dankbar, doch vor allem galt ihre Dankbarkeit dem National Health Service und den wunderbaren Leuten, die in die Wege geleitet hatten, dass die Kosten übernommen wurden und sie nichts bezahlen musste.
    Brenda hatte aus geburtsmedizinischer Sicht eine tragische Geschichte hinter sich. Sie hatte jung geheiratet und war in den 1930er-Jahren viermal schwanger gewesen. Kein Baby hatte überlebt. Die Tragödie bei Frauen mit Rachitis ist, dass ihr Becken, so wie die anderen Knochen auch, deformiert ist. Es entwickelt sich ein plattes oder »rachitisches« Becken. Daher kann das Baby gar nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten zur Welt gebracht werden. Brenda hatte vier Schwangerschaften mit Geburtshindernissen durchlebt und jedes Mal war das Baby nach lang andauernden Wehen gestorben. Sie selbst hatte nur mit Glück überlebt – anders als zahllose Frauen früherer Jahrzehnte in ganz Europa.
    Kleine Mädchen waren immer etwas stärker gefährdet, an Rachitis zu erkranken, als Jungen. Das hatte wahrscheinlich eher soziale als physiologische Gründe. Arme Mütter großer Familien neigten oft dazu, Söhne bevorzugt zu behandeln (und das ist heute noch so!). Daher bekamen Jungen mehr zu essen. Jungen bewegten sich zudem häufiger und gingen öfter zum Spielen nach draußen. In Poplar waren es immer nur Jungen, die sich unten am Wasser, am Kai oder auf den zerbombten Grundstücken herumtrieben. Dabei waren ihre Körper dem Sonnenlicht ausgesetzt, während man ihre Schwestern im Haus behielt. Außerdem gab es eine Reihe von Ferienfreizeiten, ins Leben gerufen von sozialen Wohltätern. Sommerlager, bei denen arme Jungen einen Monat auf dem Land im Zelt verbrachten, waren weit verbreitet und sie retteten Tausenden das Leben. Doch ich habe nie gehört, dass vor hundert Jahren Sommerlager für Mädchen stattgefunden hätten. Vielleicht hielt man es nicht für schicklich, Mädchen von zu Hause wegzuschicken und sie in Zelten unterzubringen. Vielleicht übersah man aber auch einfach, was Mädchen brauchten. Was auch immer der Grund war, sie blieben außen vor. Die lebenspendende Sommersonne wurde ihnen vorenthalten und rachitische kleine Mädchen wuchsen zu deformierten Frauen heran, die zwar Kinder zeugen und neun Monate austragen, sie aber nicht zur Welt bringen konnten.
    Man wird nie erfahren, wie viele Frauen an Erschöpfung unter den Qualen eines Geburtshindernisses starben: Auf die Armen konnte man verzichten, daher hat niemand je ihre Zahl erfasst. Irgendwo in einem uralten Handbuch mit einem Titel wie Anleitung für Frauen, die das Wochenbett begleiten las ich einmal: »Wenn eine Frau länger als zehn oder zwölf Tage Wehen hat, sollte sie einen Arzt um Hilfe bitten.« Zehn oder zwölf Tage Wehen bei einem Geburtshindernis, und das in den Händen einer Frau ohne Ausbildung! Gütiger Himmel – kannte man denn keine Gnade, verstand man nicht, was da geschah? Ich musste solche quälenden Vorstellungen aus meinen Gedanken vertreiben und Gott im Stillen dafür danken, dass die Geburtsmedizin sich seitdem weiterentwickelt hatte. Und trotzdem vermittelten noch während meiner Ausbildung die neuesten Lehrbücher die Ansicht, man solle bei Frauen mit einem rachitischen Becken »versuchsweise Wehen von acht bis zwölf Stunden« zulassen, »um die Belastbarkeit von Mutter und Fötus zu testen«.
    Brenda hatte man in den 1930er-Jahren auf diese Weise viermal »versuchsweise« Wehen erleiden lassen. Warum in aller

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