Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
’n bisschen früh dran. Die sind noch nicht durch. Aber ich hab Ihnen die Schüssel zum Auskratzen aufgehoben, wenn Sie wollen.«
Schwester Monica Joan stürzte sich auf die Schüssel, als hätte sie seit Wochen nichts gegessen, kratzte sie mit dem breiten Holzlöffel aus und schleckte beide Seiten unter genüsslichem Gemurmel ab.
Mrs B. ging zur Spüle und nahm ein feuchtes Tuch. »Also, Schwester, jetzt haben Sies auf Ihrem ganzen Habit verteilt un am Schleier hängt auch noch was. Putzen Sie sich brav die Finger ab. So können Sie nich zur Terz gehen. Die Glocke geht bestimmt jeden Moment.«
Die Glocke ertönte. Schwester Monica Joan sah sich kurz zu mir um und zwinkerte mir zu.
»Ich muss gehen. Sie können die Schüssel jetzt spülen. Oh, welch eine Freude im Himmel herrscht, wenn sich die Sphären regen und die kleinen Sandkörnchen die Sterne berühren. Phönix entsteigt der lebendigen Flamme und Ceres ruft … denken Sie dran, mir die knusprigen aufzuheben.«
Damit trippelte sie aus der Küche, während Mrs B. ihr voller Zuneigung die Tür aufhielt.
»Sie is ne Wucht, aber wirklich. Sie würden ja nich glauben, dass sie während beider Weltkriege die ganze Zeit in den Docks verbracht hat und auch während der Depression. Sie hat Tausende unserer Kinder auf die Welt gebracht. Selbst in den Bombennächten is sie nich gegangen. Sie hat Babys in Luftschutzkellern und in der Krypta von der Kirche entbunden und einmal in dem, was von nem ausgebombten Haus übrig war. Gesegnet soll sie sein. Wenn sie die knusprigen will, soll sie sie haben.«
Schon oft hatte ich von so vielen Leuten solche Geschichten gehört – über die Jahre ihrer selbstlosen Arbeit und ihr Engagement. Man kannte und liebte Schwester Monica Joan in ganz Poplar. Ich hatte gehört, sie stamme aus einer hohen aristokratischen Familie, die schockiert war, als sie in den 1890er-Jahren verkündete, dass sie Krankenschwester werden wolle. War nicht ihre Schwester eine Comtesse und ihre Mutter eine Dame? Wie konnte sie sie nur so sehr beschämen? Zehn Jahre später, als sie als eine der ersten ausgebildeten Hebammen des Landes ihren Abschluss machte, schwiegen sie dazu, so sehr missfiel es ihnen. Sie durchtrennten auch noch die letzten Bande, als sie in einen Orden eintrat und ihre Arbeit im Londoner East End aufnahm.
Das Mittagessen war die einzige Gelegenheit des Tages, bei der wir alle zusammenkamen. Die meisten Klostergemeinschaften nehmen ihre Mahlzeiten schweigend ein, doch im Nonnatus House war das Sprechen gestattet. Wir warteten im Stehen, bis Schwester Julienne hereinkam und das Tischgebet sprach, dann setzten wir uns. Anschließend brachte Mrs B. den Servierwagen herein und meist teilte Schwester Julienne das Essen aus und jemand anderes trug die Teller zu den Plätzen. An diesem Tag unterhielten sich alle über zwei Themen: die Gesundheit von Schwester Bernadettes Mutter und die beiden Gäste, die wir an diesem Nachmittag zum Tee erwarteten.
Schwester Monica Joan war brummig. Sie konnte wegen ihrer Zähne kein Kotelett essen und sie mochte das Hackfleisch nicht. Kohl hatte sie noch nie leiden können. Sie wartete also auf den Nachtisch.
»Nimm doch ein bisschen Kartoffelpüree mit Zwiebelsoße, meine Liebe. Ich weiß, dass du Mrs B.s Zwiebelsoße magst. Du brauchst doch Proteine.«
Schwester Monica Joan seufzte, als hätte man alle Ungerechtigkeit der Welt auf ihre Schultern geladen.
»Haltet ein und bedenkt! Das Leben, es ist nur ein Tag / Ein Tautropfen, der auf den Weg sich wagt.«
Schwester Evangelina hielt mit gezückter Gabel inne und schnaubte: »Was soll denn jetzt das mit dem Tautropfen?«
Schwester Monica Joan vergaß ihre Brummigkeit und sagte spitz: »Keats, meine Liebe, John Keats. Unser größter Dichter, aber das weißt du vielleicht nicht. Oh je, ich hätte nicht von Tautropfen anfangen sollen. Es ist mir nur so herausgerutscht.«
Sie nahm ein feines Taschentuch aus Batist und hielt es sich mit spitzen Fingern vor die Nase. Schwester Evangelina begann am Hals rot anzulaufen.
»Dir rutscht viel zu oft etwas heraus, wenn du mich fragst, meine Liebe.«
»Niemand hat dich gefragt, Liebes«, sagte Schwester Monica Joan sehr, sehr ruhig in Richtung der Wand.
Schwester Julienne schritt ein. »Ich habe dir auch ein paar frische Karotten auf den Teller getan. Ich weiß, du magst Karotten. Wusstet ihr, dass der Pfarrer dieses Jahr zweiundsiebzig junge Leute in seinem Konfirmandenunterricht hat? Stellt euch mal vor!
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