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Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Titel: Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Worth
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abends. Ich kam gerade aus der neu eröffneten Festival Hall . Vielleicht war ich besser gekleidet als die meisten anderen Fahrgäste an diesem Abend, daher hielt sie mich für wohlhabender. Sie kam auf mich zu und sagte leise in einem singenden irischen Tonfall: »Könnten Sie mir vielleicht einen Fünfpfundschein wechseln?«
    Ich war verblüfft. Wechselgeld für fünf Pfund! Ich hatte wohl kaum mehr als drei Shilling für den Rest der Woche übrig. Es war, als würde heute jemand einen auf der Straße ansprechen und einen Fünfhundertpfundschein wechseln wollen.
    »Nein, kann ich nicht«, sagte ich kurz angebunden. Mein Kopf war noch voller Musik, denn ich ließ das Konzert wieder und wieder in meinem Kopf ablaufen. Es sollten mir jetzt keine völlig Fremden mit dummen Fragen auf die Nerven gehen.
    Doch es lag etwas in ihrem verzweifelten Seufzer, das mich veranlasste, sie mir genauer anzusehen. Sie war klein und dünn und hatte ein gleichmäßig ovales Gesicht, wie auf einem Gemälde der Präraffaeliten. Sie konnte vierzehn oder auch zwanzig sein. Sie hatte keinen Mantel an, nur eine dünne Jacke, die für den kalten Abend alles andere als angemessen war. Sie trug weder Strümpfe noch Handschuhe und ihre Hände zitterten. Sie sah aus wie ein sehr armes, schlecht ernährtes Mädchen – und doch hatte sie offenbar fünf Pfund.
    »Warum gehst du nicht zum Wechseln in das Café da drüben?«
    Sie sah sich verstohlen um. »Ich trau mich nicht. Es könnte mich ja jemand beobachten und verraten. Dann würden sie mich zusammenschlagen oder umbringen.«
    Mir kam der Gedanke, dass sie das Geld wahrscheinlich gestohlen hatte. Diebesgut hat keinen Wert, wenn man es nicht wieder an den Mann bringen kann. Bargeld kann in der Regel ohne Probleme wieder unter die Leute gebracht werden, aber dieses Mädchen hatte wohl Angst, es zu versuchen. Ich hörte mich sagen: »Hast du Hunger?«
    »Ich habe heute noch nichts gegessen und gestern auch nicht.«
    Achtundvierzig Stunden ohne Essen, aber einen Fünfpfundschein in der Tasche? Das wird ja immer kuriöser, wie Alice zu der Raupe sagt.
    »Na gut, dann gehen wir doch in das Café und bestellen dir etwas zu Essen. Ich bezahle mit deinen fünf Pfund und dann denkt jeder, der es sieht, dass das Geld mir gehört. Was hältst du von dem Plan?«
    Auf dem Gesicht des Mädchens erschien ein freudiges Lächeln. »Dann nimmst du es lieber jetzt schon, dann sieht auch niemand, wie ich es dir gebe.«
    Sie sah sich nach allen Seiten um und drückte mir dann knisternd die riesige weiße Banknote in die Hand. Sie ist ja sehr vertrauensselig, dachte ich. Sie fürchtet sich zwar vor jemandem, aber sie hat keine Angst, dass ich die fünf Pfund einstecke und davonlaufe.
    Im Café bestellten wir ein Steak mit zwei Eiern, Fritten und Erbsen für sie. Sie zog ihre Jacke aus und setzte sich. In diesem Moment sah ich, dass sie schwanger war. Sie trug keinen Ehering. Es war damals eine große Schande, unverheiratet schwanger zu werden. Es war zwar nicht mehr so schlimm wie zwanzig oder dreißig Jahre zuvor, doch ich konnte mir vorstellen, dass sie eine harte Zeit vor sich hatte.
    Sie war hungrig und widmete sich ganz dem Essen, während ich einen Kaffee trank und sie betrachtete. Sie hieß Mary und war eine echte irische Schönheit mit rötlich braunem Haar, zartem Wuchs und blasser Haut. Sie konnte ebenso gut eine keltische Prinzessin sein wie der Sprössling eines versoffenen irischen Bauarbeiters, schwer zu sagen – vielleicht ist der Unterschied gar nicht so groß, dachte ich.
    Ihr erster Hunger war gestillt, sie sah mit einem Lächeln zu mir auf.
    »Woher kommst du?«, fragte ich.
    »County Mayo.«
    »Warst du schon einmal von zu Hause weg?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Weiß deine Mutter, dass du schwanger bist?«
    In ihren hübschen Augen zeichneten sich Angst, Schuldgefühle und Zorn ab. Sie kniff die Lippen zusammen.
    »Also, ich bin Hebamme. Ich sehe so etwas sofort, weil ich es gelernt habe. Ich glaube aber nicht, dass es jemand anderes schon bemerkt hat.«
    Ihr Gesicht entspannte sich wieder, also fragte ich sie noch einmal: »Weiß es deine Mutter schon?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Was willst du jetzt machen?«, fragte ich.
    »Ich weiß nicht.«
    »Du musst wieder nach Hause zurück«, sagte ich. »London ist eine riesige, unheimliche Stadt. Hier kann man kein Kind allein großziehen. Deine Mutter muss dir helfen. Du wirst es ihr sagen müssen. Sie wird es verstehen. Mütter lassen ihre

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