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Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Titel: Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Worth
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Töchter so gut wie nie im Stich.«
    »Ich kann nicht zurück. Es ist unmöglich«, sagte sie.
    Weitere Fragen zu diesem Thema wollte sie nicht beantworten, also sagte ich: »Wie bist du denn nach London gekommen und warum überhaupt?«
    Sie schien sich nun wohler zu fühlen und wirkte etwas gesprächiger. Ich bestellte Apfelkuchen mit Eis für sie. Langsam und in vielen Bruchstücken kam ihre Geschichte ans Licht. Ich war so verzaubert von ihrer musikalischen Stimme, dass ich ihr die ganze Nacht hätte zuhören können, gleich ob sie eine Wäscheliste vorlas oder mir ihre Leidensgeschichte erzählte.
    Sie war das älteste von fünf Kindern, die am Leben geblieben waren. Acht ihrer Geschwister waren bereits gestorben. Ihr Vater war Landarbeiter und Torfstecher. Die Behausung, in der sie lebte, nannte sie eine Hütte. Ihre Mutter erledigte die Wäsche für das »große Haus«, erzählte sie mir. Als sie vierzehn war, bekam ihr Vater während des westirischen Winters eine Lungenentzündung und starb. Die Familie stand ohne Beschützer da. Die Hütte gehörte zu dem Land, das ihr Vater bebaut hatte, und da keiner der Söhne bereits alt genug war, die Arbeit zu übernehmen, musste die Familie ihre Unterkunft räumen. Sie zogen nach Dublin. Die Mutter war eine Frau vom Land, hatte sich nie weiter als einen Tagesmarsch von den Hügeln und Wiesen ihrer Heimat entfernt und fand sich in der fremden Umgebung nicht mehr zurecht. Sie fanden eine Bleibe in einem Wohnblock und zunächst versuchte sich die Mutter noch als Wäscherin, doch die Menschen waren so arm und die Konkurrenz war so groß, dass sie sich bald geschlagen gab. Sie konnten ihre Miete nicht bezahlen und mussten ihre Wohnung wieder räumen. Mary nahm Arbeit in einer Fabrik an und arbeitete sechzig Stunden pro Woche für einen Hungerlohn. Ihr dreizehnjähriger Bruder Mick log, als er sein Alter angeben musste, und verließ die Schule, um in einer Gerberei zu arbeiten.
    Vielleicht hätten die gemeinsamen Anstrengungen der beiden gerade ausgereicht, um die Familie über Wasser zu halten, wäre da nicht ihre Mutter gewesen.
    »Meine arme Mam! Ich hasse sie für das, was sie uns angetan hat, und doch kann ich sie nicht wirklich hassen. Sie konnte sich von den Hügeln und dem weiten Himmel einfach nicht trennen. Vom Ruf der Brachvögel und der Lerche, vom Meer und der Stille der Nacht.«
    Ihre Stimme klang wie der traurige Ton einer Oboe, die sich über die Musik des Orchesters erhebt.
    »Zuerst trank sie nur Guinness – ›weils mir guttut‹, sagte sie. Dann nahm sie auch jedes andere Bier, das sie auftreiben konnte. Dann war es Schnaps, den der Scherenschleifer schwarzbrannte. Ich weiß nicht, was sie jetzt trinkt. Wahrscheinlich Spiritus mit kaltem Tee.«
    Die Lehrerin berichtete irgendwann, dass die drei jüngeren Geschwister die Schule schwänzten und, wenn sie doch erschienen, halb nackt und halb verhungert waren. Sie wurden ihrer Mutter weggenommen und in ein Waisenhaus gebracht. Die Mutter schien gar nicht zu bemerken, dass sie nicht mehr da waren. Sie hatte inzwischen mit einem anderen Mann angebandelt.
    »Es ist wahrscheinlich gut, dass man sie ihr weggenommen hat, denn ich habe zwei kleine Schwestern und ich will nicht, dass ihnen das Gleiche passiert wie mir.«
    Mich schauderte. Von den Leuten vom Jugendamt hatte ich gehört, dass es häufig das Todesurteil für die Kinder ist, wenn die Mutter einen neuen Mann nach Hause bringt.
    »Er war groß und stark. Ich habe ihn nie nüchtern erlebt. Ich konnte mich nicht wehren. Nie hätte ich gedacht, dass es etwas so Ekelhaftes gibt. Er hat es wieder und wieder getan, bis ich mich dran gewöhnt hatte. Erst als er mich und meine Mam mit allem schlug, was er in die Finger bekam, wusste ich, dass ich da wegmusste. Meine Mam schien die Prügel gar nicht zu bemerken. Ich glaube, sie war zu betrunken, um überhaupt etwas zu spüren. Ich aber nicht. Ich dachte, er bringt mich um.«
    Sie hatte ein paar Nächte lang in den Straßen von Dublin geschlafen und alles, was sie besaß, passte in ein Einkaufsnetz. Doch sie dachte immerzu an London. Sie sagte: »Kennst du die Geschichte von Dick Whittington und seiner schwarzen Katze? Meine Mam hat uns die Geschichte immer erzählt und ich dachte, London muss wunderschön sein.«
    Sie ging in den Hafen und fragte, was eine Überfahrt nach England kostet. Es entsprach dem Lohn für drei Wochen Arbeit, also arbeitete sie weiter in der Fabrik und schlief nachts in einem der

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