Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
wenn du so viel Zeit mit einem Fremden verbringst?‹
›Meine Mam ist weit weg, in Irland.‹
›Na, dann eben dein Dad.‹
›Mein Dad ist tot.‹
›Du Arme. Dann wohnst du in London wahrscheinlich bei einer Tante?‹
Er strich mir wieder über die Wange und sagte ›du Arme‹ und ich glaubte vor Glück zu zerfließen. Also kuschelte ich mich in seine Arme und erzählte ihm die ganze Geschichte – aber ich habe ihm nichts von dem Mann bei meiner Mutter erzählt und davon, was er mir angetan hatte, denn ich habe mich geschämt und wollte nicht, dass er schlecht von mir denkt.
Er sagte nichts. Eine ganze Zeit lang strich er mir nur über die Wange und über den Kopf. Dann sagte er: ›Arme kleine Mary. Was machen wir denn jetzt mit dir? Ich kann dich doch nicht die ganze Nacht hier am Kanal lassen. Ich fühle mich jetzt für dich verantwortlich. Ich glaube, du kommst jetzt lieber mit zu meinem Onkel. Es ist ein schönes Café. Mein Onkel ist sehr nett. Wir können etwas Anständiges essen und uns dann überlegen, was aus dir werden soll.‹«
Cable Street
Stepney, das nur ein Stück östlich der Londoner City liegt und im Norden an die Commercial Road grenzt, mit dem Tower und der Königlichen Münzprägeanstalt im Westen, Wapping und den Docks im Süden und Poplar im Osten, war vor dem Krieg die Heimat anständiger und fleißiger, aber oft armer East-End-Familien. Ein großer Teil dieses Stadtbezirks bestand aus überfüllten Wohnblocks, schmalen, unbeleuchteten Sträßchen und alten Häusern, in denen die Menschen schon seit Generationen auf engstem Raum lebten, und sie hatten sich daran gewöhnt.
Nach dem Krieg jedoch wandelten sich die Verhältnisse auf dramatische Weise zum Schlechten. Das ganze Viertel wurde zum Abriss freigegeben, doch es sollte noch zwanzig Jahre dauern, bis das tatsächlich geschah. In der Zwischenzeit wurde die Gegend zur Brutstätte des Lasters in all seinen Facetten. Für die zum Abriss bestimmten Privathäuser fanden sich auf dem offenen Markt keine seriösen neuen Besitzer und so wurden sie von skrupellosen Profiteuren aus aller Herren Länder aufgekauft, die einzelne, verfallene Zimmer sagenhaft günstig vermieteten. Die Geschäfte wurden in gleicher Weise aufgekauft und in Nachtcafés mit »Straßenkellnerinnen« verwandelt. Tatsächlich waren es Bordelle.
Beengte Verhältnisse hatten immer schon zum Leben der East Ender gehört, aber der Krieg machte alles noch weit schlimmer. Viele Häuser waren durch die Bombardements zerstört und nicht wieder aufgebaut worden, also lebten die Menschen, wo auch immer sie ein Dach über dem Kopf fanden. Zudem strömten in den 1950er-Jahren Tausende Immigranten aus dem Commonwealth ins Land, ohne dass man Maßnahmen zu ihrer Unterbringung getroffen hatte. Es war kein ungewöhnlicher Anblick, Gruppen von zehn oder mehr Menschen aus der Karibik von Tür zu Tür ziehen zu sehen, wo sie um ein Zimmer zur Miete baten. Wenn sie eines fanden, war es in kürzester Zeit mit zwanzig, fünfundzwanzig Menschen vollgestopft, die alle dort lebten.
So etwas hatten die East Ender schon einmal erlebt und sie konnten sich damit arrangieren. Aber als weite Teile ihrer Straßen, Gassen und Wege, ihrer Läden und Häuser ganz offen zur Prostitution genutzt wurden, war das etwas völlig anderes. Das Leben wurde ihnen zur Hölle, die Frauen hatten Angst, vor die Tür zu gehen oder ihre Kinder nach draußen zu lassen. Die zähen East Ender waren hart im Nehmen. Sie hatten zwei Weltkriege und die Große Depression der 1930er-Jahre erlebt, die Bombennächte überstanden und sich mit einem Lächeln wieder aufgerappelt, nun waren sie durch Laster und Prostitution, die sich mitten unter ihnen breitmachten, am Boden zerstört.
Versuchen Sie sich vorzustellen, dass Sie in einem verfallenen Haus in zwei Zimmern im zweiten Stock zur Miete leben und sechs Kinder großziehen müssen. Dann stellen Sie sich vor, dass es plötzlich einen neuen Vermieter gibt und aufgrund von Drohungen und Einschüchterungen, Angst oder auch echten Umsiedlungsmaßnahmen alle Ihnen seit Ihrer Kindheit bekannten Familien nach und nach ausziehen. Alle Zimmer des Hauses sind neu aufgeteilt, jetzt leben Prostituierte dort, bis zu fünf in jedem Zimmer. Aus dem Laden im Erdgeschoss ist ein Nachtcafé geworden und der Lärm, die laute Musik, die Partys, das Fluchen und Streiten sind die ganze Nacht über zu hören. Das Geschäft der Prostitution blüht bei Nacht und bei Tag, Männer trampeln die
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