Callboys - Die Schönen der Nacht
Begegnung. Er zog die Mappe, die ich ihm gegeben hatte, aus seiner Aktentasche aus schwarzem Leder, schlug sie jedoch nicht auf.
„Sam wird nicht kommen, Ma“, wiederholte er.
Mrs. Stewart schüttelte den Kopf und erwiderte mit zitternder Stimme: „Er wird kommen. Natürlich wird er kommen.“
Dan sah kurz zu mir herüber, dann schüttelte auch er den Kopf. „Ich habe ihm gesagt, dass er nicht kommen soll.“
In den meisten Familien gibt es heiße Eisen, die normalerweise einfach so weit wie möglich ignoriert werden können, doch selbst in jenen Familien, denen es fast immer gelingt, die makellose Fassade aufrechtzuerhalten, können sich dramatische Szenen abspielen, wenn die Familienmitglieder mit dem Tod konfrontiert werden. Ich habe in dieser Beziehung schon fast alles erlebt, von stotternd hervorgebrachten Beschuldigungen bis zu Faustkämpfen neben dem offenen Sarg.
Es folgte ein Moment atemloser Stille, während Mrs. Stewart sich auf ihrem Stuhl umdrehte, um ihren Sohn anzustarren. „Was für einen Grund hast du, so etwas zu tun?“
Dan rieb sich mit der Hand übers Gesicht, sah sie aber schließlich an. „Darüber müssen wir nicht ausgerechnet jetzt sprechen.“
„Sehr gut.“ Sie sah wieder nach vorne, die Hände im Schoß verkrampft, und dann begann ihre Unterlippe als Ankündigung nahender Tränen zu zittern. „Gut, Daniel, gut. Du hast alles entschieden, nicht wahr?“
Dan warf mir einen entschuldigenden Blick zu, den ich mit einem, wie ich hoffte, bedauernden Blick erwiderte. „Ja, Ma, was auch immer. Lass es uns hinter uns bringen.“
Ich wartete kurz, um zu sehen, ob sie noch etwas sagen würde, doch sie schniefte stattdessen nur und sah an ihm vorbei. Ich streckte die Hand nach der marineblauen Mappe aus, die er immer noch festhielt. Er reichte mir die Unterlagen. Da wir die Zeremonie bereits geplant und auch mit dem Rabbi gesprochen hatten, der den Gottesdienst halten sollte, gab es nicht mehr viel zu besprechen. Den Regeln des jüdischen Glaubens entsprechend, musste die Andacht so bald wie möglich gehalten werden, also noch am selben Vormittag.
Als Mrs. Stewart einen erstickten Ton ausstieß, schaute ich hoch. Sie betupft wieder ihre Augen. „Es gibt so viel, woran wir denken müssen! So viel zu tun!“
Dan machte Anstalten, ihre Schulter zu berühren, zog jedoch in letzter Sekunde die Hand zurück. „Genau aus diesem Grund habe ich alles schon vorher arrangiert, Ma. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst. Dad ist in den besten Händen.“ Er sah mich an. „Nicht wahr?“
„Auf jeden Fall, Mrs. Stewart.“ Bei jüdischen Beisetzungen hatte ich nicht viel mehr zu tun, als den Ort zur Verfügung zu stellen, wo der Tote bis zur Beerdigung ruhen konnte, und den Verblichenen dann zum Friedhof zu schaffen. „Ich freue mich, wenn ich Ihnen helfen kann, indem ich mich um alles Nötige kümmere.“
Mrs. Stewart seufzte, lächelte mich mit zitternden Lippen an und suchte dann den Blick ihres Sohnes. „Ich bin sicher, dass Sie sich bestens um alles kümmern. Ich wünschte nur, dein Bruder wäre hier, Dan.“
„Er wird zum Gottesdienst kommen“, erwiderte Dan mit versteinertem Gesicht. Jedenfalls hat er gesagt, er würde kommen. Jetzt muss er nicht hier sein.“
„Aber vielleicht hätte er ein paar Ideen …“
„Ma“, unterbrach Dan sie in einem Ton, der deutlich machte, dass er schon einige Male dieses Thema mit ihr durchhatte. „Wir haben alles unter Kontrolle. Was meinst du denn, was er tun sollte? Gitarre spielen?“
Erneut legte sich einen Moment lang das Schweigen wie eine Decke über uns. Dann schaute Dan mich wieder an, während Mrs. Stewart ihre Hände betrachtete, die miteinander verschlungen in ihrem Schoß lagen.
„Mein Bruder“, stellte Dan fest, „ist nicht sehr verantwortungsbewusst.“
Mrs. Stewart schnaubte ein weiteres Mal ausgiebig in ihr Taschentuch. Als Dan dieses Mal den Arm ausstreckte, um ihr die Schulter zu tätscheln, tat er es auch und zog ihn nicht wieder zurück. Anschließend beugte er sich über den Schreibtisch, um mir die Hand zu schütteln.
„Vielen Dank, Ms. Frawley.“
Erneut berührte mich seine Höflichkeit. „Das tue ich gerne“, erwiderte ich rasch.
„In ein paar Stunden sind wir zum Gottesdienst wieder da“, erklärte Dan. „Nun komm, Ma. Du solltest dich bis dahin noch ein wenig ausruhen.“
Ich begleitete die beiden zur Tür meines Büros. In der Halle saß eine Frau, deren langes dunkles Haar von
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