Callboys - Die Schönen der Nacht
Sweatshirt der Schweiß ausbrach. Seine Augen ließen meine nicht los, und ich wandte den Blick nicht ab.
„Ich habe also nicht nur einfach Glück, sondern ich bin auch etwas Besonderes.“
Obwohl ich mich sehr bemühte, den Mund nicht zu verziehen, unterlag ich im Kampf gegen das Lächeln, das auf meine Lippen wollte. „Du musst morgen früh zu einer Beerdigung. Es wird von dir erwartet, dass du die Nacht über bei deinem Vater sitzt. Das ist eine schwierige und emotionale Zeit in deinem Leben …“
Sam küsste mich wieder. Sanft und vorsichtig, seine Lippen streiften meine nur. Und wie ein Schulmädchen in einer meiner Rollenspielfantasien schloss ich die Augen. Der Kuss konnte nicht länger als eine Sekunde gedauert haben, aber ebenso wie seine Beine erschien er mir endlos.
„Was hast du eben gesagt?“, wollte er von mir wissen.
Das hier war keine Fantasie, und das hier waren weder die Zeit noch der Ort für eine. Während meine Augen immer noch fest geschlossen waren, leckte ich mir über die Lippen und schmeckte ihn. „Du musst gehen.“
„Sag es.“
Ich wusste, was er meinte, und lächelte, ohne die Augen zu öffnen. „Du musst gehen … Sam.“
Sein Seufzer ging mir unter die Haut, und ich wartete auf noch einen Kuss, doch alles, was ich bekam, war ein Schauer, der mich überlief, als seine Wärme sich entfernte. Als ich die Augen öffnete, stand er in der Tür. Sein Kopf berührte fast den oberen Rahmen.
„Siehst du?“, stellte er fest, bevor er sich duckte und aus dem Zimmer ging. „Wir sind also doch keine Fremden.“
Und dann war er fort.
6. KAPITEL
Als ich noch ein Kind war, dauerte es immer viel zu lange, bis der Weihnachtsmorgen endlich kam. Ich erwachte in der Dunkelheit und spitzte die Ohren, um die Hufe der Rentiere auf dem Dach zu hören oder den dumpfen Klang von Santa Claus’ Stiefeln, wenn er unseren Schornstein herunterrutschte und auf dem Boden landete. Ich kroch zu meiner Schwester ins Bett und schüttelte sie, obwohl sie fast immer auch schon wach war, und wir flüsterten miteinander, in der Hoffnung, die Sonne dazu bringen zu können, eher, viel eher aufzugehen. Das hat sie damals nie getan, und auch jetzt, da ich erwachsen war, tat sie es nicht.
Ich wusste nicht, ob und wie Sam während seiner Nachtwache bei seinem Vater geschlafen hatte. Ich wusste, dass er eigentlich nicht hätte schlafen sollen, aber er hätte auch nicht Gitarre spielen oder den Raum verlassen sollen. Was auch immer er getan hatte, er hatte es leise getan, denn ich hörte für den Rest der Nacht keinen einzigen Ton mehr.
Trotz der drei Stockwerke, die uns trennten, meinte ich Sams Körper neben mir in dem plötzlich viel zu leeren Bett zu spüren. Ich wusste einfach, wie es sich anfühlen würde, wenn er ausgestreckt neben mir lag, den Kopf ganz oben im Bett, die Füße ganz unten. Wie sich die Bettdecke über seinem Körper wölben und wie seine Wärme mich einhüllen würde.
Es war eine sehr lange Nacht.
Als endlich die Zeit gekommen war, zu der ich beschließen konnte, dass es in Ordnung war, jetzt aufzustehen, war ich eingedöst. Mühsam riss ich die Lider auf und stolperte unter die heiße Dusche, zog anschließend meinen schwarzen Lieblingshosenanzug an, den, der Abnäher an der Hüfte hatte, sodass meine Silhouette darin deutlich zu erkennen war. Dieses Outfit komplettierte ich mit einer weißen Seidenbluse mit einem großen Kragen, der auf dem Jackett des Anzugs lag. Ich zog mich so an, dass ich als Repräsentantin meiner Firma auftreten konnte, ich zog mich aber auch für Sam an, da machte ich mir selber nichts vor.
Ich traf die Familie Stewart gleich als Erstes am Montagmorgen. Obwohl ich Dan schon kannte, begegnete ich seiner Mutter zum ersten Mal. Er führte sie in mein Büro und half ihr, sich auf den Stuhl in der Mitte zu setzen, bevor er sich rechts neben ihr niederließ.
„Mein Bruder wird nicht kommen“, verkündete er, und verriet dabei mit seiner Miene mehr als mit seinen Worten.
Mein Herz wurde schwer.
„Er wird kommen.“ Mrs. Stewart umklammerte ein Taschentuch, mit dem sie ab und zu ihre Augen betupfte, aber sie schluchzte nicht.
Auch Dan schluchzte nicht, obwohl seine Augen rotgerändert waren, wie die eines Mannes, der stundenlang mit den Tränen gekämpft hatte und dabei immer wieder unterlegen war. Auf seinen Wangen waren Bartschatten zu sehen, und sein sandfarbenes Haar sah zerwühlt aus, doch er trug einen ebenso schicken Anzug wie bei unserer ersten
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