Callgirl
eigenen Überraschung spürte ich, dass heiße Tränen hinter meinen Augen brannten. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich würde ja wohl nicht so selbstmitleidig sein und jedes Mal, wenn ich mich ein bisschen einsam fühlte, in Tränen ausbrechen.
Außerdem war es nur vernünftig, Single zu bleiben, sagte ich mir, als ich schließlich mit dem mühseligen Prozess des Auspackens begann – wenigstens so lange, wie ich für Peach arbeitete. Wenn sich eine Frau in diesem Gewerbe auf eine Beziehung einlässt, hat sie die Wahl zwischen zwei unangenehmen Alternativen. Entweder sie erzählt ihrem Partner nichts von ihrer Arbeit beim Escort-Service und ist dann gezwungen, weiterhin zu lügen, weiterhin Verstecken zu spielen, weiterhin in der ständigen Angst zu leben, dass er ihr Geheimnis selbst entdeckt. Oder sie erzählt ihm davon: In diesem Fall kann sie sich ansehen, wie tolerant er redet, wie erregt er – am Anfang – reagiert. Anschließend kann sie dann beobachten, wie lange die Beziehung braucht, um nach dieser Enthüllung zu zerbrechen und den Bach herunterzugehen.
Wenn ich ehrlich bin, kann ich den Mann sogar ein bisschen verstehen. Ich für meinen Teil weiß genau, wie mein Verhältnis zu den Kunden aussieht: Wenn ich Sex mit ihnen habe, ist das eine rein berufliche Angelegenheit. Als ich mit Luis ins Bett ging und außerdem Kunden traf, hatte ich keine Probleme damit, die beiden Aktivitäten auseinander zu halten. In gewisser Weise schlief Luis mit Jen, während die Kunden mit Tia schliefen. Ich weiß, das klingt vielleicht nach einer groben Vereinfachung, aber man kann es durchaus so betrachten.
Es wäre auf alle Fälle ein harter Brocken für eine neue Beziehung. Ich sollte lieber warten, bis die Leichen nicht mehr aus der Kellertür guckten.
Die Frage war natürlich, ob ich je den Punkt erreichen würde, an dem ich überhaupt keine Leichen mehr im Keller hätte. Wahrscheinlich nicht, aber das sollte eigentlich kein Hindernis sein, oder? Jeder hat irgendwas in seinem Leben, für das er sich schrecklich schämt. Jeder hat schmutzige kleine Geheimnisse, streng gehütete und sorgsam gehegte Lügen. Jeder hat Leichen im Keller.
Aber mein dunkles Geheimnis war vielleicht ein bisschen schwerer zu verdauen als andere. Es war wirklich schwierig, sich ein glückliches Ende für dieses spezielle Szenario vorzustellen. »Ach, Schatz, du wolltest doch noch wissen, was ich früher im Nebenjob gemacht habe …« Wie sagt man seinem Liebsten, dass man als Callgirl gearbeitet hat? Geilt ihn das auf? Yeah. Anfangs sicherlich. Aber lange hält das nicht vor. Gemäß des uralten gespaltenen Frauenbildes, das Männer im Kopf haben, wird er zunächst ganz wild darauf sein, mit mir zu schlafen. Aber ich bin nicht die Sorte Frau, die er seiner Mutter vorstellen möchte. Und ganz gewiss nicht die Sorte Frau, die er heiraten würde.
Irgendwann wird er dann schließlich dasselbe tun, was alle meine Kunden tun, nämlich sich insgeheim vorstellen, mit mir zu vögeln, während er mit seiner gelangweilten und gleichgültigen Ehefrau ins Bett steigt.
Oh ja, ich spielte in Gedanken die übelsten Szenarien durch und war überzeugt, dass es nur böse enden konnte. Doch obwohl ich theoretisch vom Schlimmsten ausging, wollte ich es ausprobieren, es tatsächlich erleben. Ich wollte einen Menschen an meiner Seite. Ich wollte nicht mehr allein sein.
Am Ende machte ich die Erfahrung, dass alle Pläne für die Katz sind. Als ich meinen späteren Ehemann Tony traf, wusste er, dass eine Freundin von mir einen Escort-Service leitete, er
wusste, dass ich einige Frauen kannte, die als Callgirls arbeiteten, und er hatte kein Problem damit und nicht mal großes Interesse daran.
Damals hatte ich beschlossen, die Lüge aufrechtzuerhalten, die Leichen im Keller zu lassen und die Tür fest zu verschließen. Ich wollte mit diesem Mann zusammenleben. Und warum auch nicht? Es ging schließlich nur um drei Jahre aus meiner Vergangenheit – keine wirklich große Sache. Das würde ich schon gebacken kriegen.
Es kam natürlich zu einigen verbalen Ausrutschern. Einmal verplapperte ich mich und sagte: »Als ich damals für Peach gearbeitet habe …«, aber ich vertuschte den Patzer einigermaßen überzeugend, indem ich behauptete, dass sie mich manchmal gebeten hätte, eines der Mädchen zu einem Kunden zu fahren, wenn ihr eigener Fahrer anderweitig beschäftigt oder nicht verfügbar gewesen wäre. Tony nickte. Ich hatte Peach tatsächlich in jüngerer
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