Calling Crystal
gegenseitig Beleidigungen zuwarfen. Nichts von alledem trug dazu bei, dem zerstörten Dorf in ihrer Mitte zu helfen; auf uns übertragen waren die Häuserruinen die Mentalregionen, in denen die Contessa mit ihrer bösartigen Gabe gewütet hatte. Ich hatte versprochen, den Schaden zu beheben, aber solange ich nicht wusste, was Contessa Nicoletta getan hatte, fehlte mir der Ansatzpunkt, um zu beginnen.
Vielleicht könnte ich versuchen, um die Information zu feilschen? Ich dachte an ihren Sohn: Würde er uns etwas über die Kräfte seiner Mutter verraten, wenn im Gegenzug ein paar Haftvergünstigungen für ihn dabei heraussprangen?
Aber Xav hatte mir erzählt, dass sein Fall zurzeit noch vor Gericht verhandelt wurde. Bis zu seiner Urteilsverkündungwäre er sicher nicht an einem Handel mit uns interessiert.
Und wie sah’s mit der Contessa selbst aus? Was würde sie im Tausch für Informationen haben wollen?
Einen Seelenspiegel? Wenn nicht für sich selbst, dann vielleicht für ihren Sohn, den sie liebte, oder für ihre Enkel? Diese eine Sache, die ich zu bieten hatte, konnte kein Savant ausschlagen. Ich hatte einen Trumpf in der Hand.
Ich warf die Bettdecke zur Seite, schlüpfte in Jogginghose und Pulli und schlich aus meinem Schlafzimmer. Xav würde mich umbringen, wenn er wüsste, was ich vorhatte. Ich ging ein enormes Risiko ein, aber ich könnte mir selbst nicht mehr ins Gesicht sehen, wenn ich die Mädchen und ihre Seelenspiegel hängen lassen würde; nicht, solange ich noch etwas tun konnte.
Auf meinem Weg zur Wohnungstür stolperte ich um ein Haar über Barozzi und plumpste aufs Sofa.
»Willst du noch ausgehen?«, fragte Phoenix. Sie saß am Fenster und schaute dem Licht- und Schattenspiel des Mondes an der Gartenmauer zu.
»Du hast mich zu Tode erschreckt!«, flüsterte ich und erhob mich wieder vom Sofa. »Ich lasse nur kurz die Katze raus. Warte nicht auf mich.«
Dass Phoenix’ meiner Erklärung so wenig misstraute, zeigte, wie wenig sie sie selbst war.
»Okay.«
Ich verharrte kurz an der Tür. »Phee, warum bist du hier und nicht bei Yves im Hotel?«
Sie zuckte schief mit den Schultern. »Es hat sich einfach nicht richtig angefühlt.«
Das gab bei mir den Ausschlag. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, wie sehr es Yves schmerzen musste, allein in seinem Hotelzimmer zu sitzen, ohne seine Frau. »Du kannst gern so lange hierbleiben, wie du willst, Phee.« Ich stieg in meine Gummistiefel. »Wir sehen uns morgen früh.«
Am Anlegeplatz an der Accademia-Brücke fand ich einen Gondoliere, der gerade seine Schicht beenden wollte; ein stämmiger Mann mit einem pausbackigen Gesicht wie ein erschöpfter Posaunenengel, der gerade zusammenpackte. Für die Fahrt nach Hause räumte er seine Sachen aus der glänzenden Gondel in ein gammliges kleines Motorboot.
»Wie viel, damit Sie mich auf die Insel von Contessa Nicoletta bringen?«, fragte ich.
»Hundert Euro«, sagte er lässig und stand dabei am Heck seines schaukelnden Bootes wie ein Reiter auf einem ungezäumten, galoppierenden Pferd.
Ich schnaubte verächtlich. »Genau, und ich bin von vorgestern. Hören Sie, ich bin keine Touristin und Sie fahren jetzt vermutlich nach Hause zur Giudecca, also ist das kein großer Umweg.«
Er musterte mich von Kopf bis Fuß. Ich sah nicht im Entferntesten so aus wie am Nachmittag, als ich vor die Kameras getreten war, denn ich trug meine bequemsten Schlabberklamotten. »Warum wollen Sie so spät da noch hin?«
»Eine außerplanmäßige Personalversammlung. Siehaben doch bestimmt die Gerüchte gehört, dass die Contessa in Schwierigkeiten stecken soll.«
Er grinste. »Ja. Wirklich komisch, die Alte, hab sie nie gemocht. Klingt so, als würde sie ganz schön im Schlamassel sitzen. Was arbeiten Sie denn bei ihr?«
»Ich helfe in der Küche.« Ich überkreuzte die Finger hinter meinem Rücken.
»Na schön, Signorina, steigen Sie ein. Ich setze Sie für zwanzig Euro an den Wassertreppen ab. Nach Hause zurück müssen Sie dann aber alleine kommen, okay?«
»Gut.« Das hieß, wenn sie mich überhaupt je wieder nach Hause ließe. Doch im Moment konnte ich mir nicht den Kopf über das ›Nachher‹ zerbrechen.
Nach zweimaligem Ziehen am Starterseil schipperte mein in die Jahre gekommener Posaunenengel mit mir über das kabbelige Wasser des Canale della Giudecca.
»Soll ich für Sie singen?«, fragte er vorwitzig.
»Da zahle ich nichts für.« Ich legte meinen Kopf auf die Knie. Ich zitterte nervös, wollte es
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