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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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kicherten.
    »Calpurnia, Jungs. Schluss jetzt«, zischte Mutter.
    »Tut mir leid, Mutter«, sagte ich leise. Ich spürte, der nächste wuchs schon tief in mir heran, und ich konnte nicht viel dagegen machen, trotzdem hielt ich die Luft an und gab mir größte Mühe.
    »– uns nährt durch die Gnade unseres Herrn –«
    HICKS .
    Oje. Meine Brüder brachen vor Lachen zusammen. Großpapa betrachtete interessiert die Zimmerdecke.
    »– Jesus Christus«, endete mein Vater verwirrt.
    Mutter warf ihre Serviette auf den Tisch. »Es reicht!«, rief sie aus. »Was um Himmels willen ist eigentlich in dich gefahren? War der Stall deine Kinderstube? Sofort auf dein Zimmer! Und ihr anderen – reißt euch zusammen, sonst geht ihr ebenfalls nach oben. Das habe ich ja noch nie gehört, dass jemand sich beim Tischgebet dermaßen schlecht benommen hätte! Und dazu noch in meiner eigenen Familie!«
    Ich wollte erklären, dass ich nichts dazu konnte, dass es keine Absicht gewesen war, aber das hätte bedeutet, Großpapas und mein Geheimnis zu verraten, und lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen. Als ich aufstand, betrachtete Großpapa ausgiebig den Kronleuchter und strich sich mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart.
    »Was ist das für ein Geruch?«, fragte Mutter, als ich hinter ihrem Stuhl vorbeiging.
    »Pfefferminz«, murmelte ich und ging schnell weiter. Mir war komisch zumute, und ich hatte auf einmal das dringende Bedürfnis zu schlafen. Während ich mit schleppendem Schritt nach oben ging, hörte ich, wie Vater unten das Tischgebet noch einmal von vorn sprach. Ich schloss die Tür hinter mir und legte mich in mein hohes Messingbett.
    Anscheinend war ich eingeschlafen, denn nach einiger Zeit wurde ich von meinem eigenen lauten Schnarchen geweckt. Die Sonne war untergegangen, ich hörte, dass meine kleinen Brüder sich gerade bettfertig machten, also musste es so gegen acht sein. Das Brennen in meinen Eingeweiden hatte ein bisschen nachgelassen. Ich setzte mich auf und merkte, wie ausgehungert ich war. Noch eine Stunde bis zu meiner eigenen Schlafenszeit. Ob ich es wohl schaffte, zur Vorratskammer zu schleichen, ohne von Mutter bemerkt zu werden? Schwierig.
    Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach mich in meinen Planungen. War das Mutter, die mich ausschimpfen wollte? Oder kam Harry, um mich zu retten? Weder noch. Es war Travis, mein zehnjähriger Bruder, der eins von seinen jungen Kätzchen trug. Den ganzen Wurf hatte er nach Pistolenhelden, Banditen und anderen Gestalten von zweifelhaftem Ruf benannt. »Sieh mal«, flüsterte er, während er mir das pelzige Tierchen in die Hände legte, »ich hab dir Jesse James gebracht. Er ist der Beste, den ich habe. Er kann dir Gesellschaft leisten.« Und damit verschwand er auch schon wieder durch den Flur. Beim Gespräch mit der Gefangenen wollte er lieber nicht erwischt werden.
    Jesse James war wenigstens ein kleiner Trost. Ich nahm ihn mit zurück ins Bett, und er lag schnurrend unter meinem Kinn und knetete mir die Schulter. Als ich kurz davor war, wieder wegzudösen, klopfte es erneut. Dieses Mal war es Großpapa, der mit ernster Miene in meiner Tür stand. In den Händen hielt er mehrere dicke Bücher.
    »Damit du ein bisschen Lektüre in der Verbannung hast«, sagte er.
    »Danke«, sagte ich und schloss die Tür, während er in sein eigenes Zimmer zurückging. Wieso brachte er mir gerade jetzt Bücher? Ich war viel zu hungrig und viel zu schlecht gelaunt, um zu lesen. Obwohl – das erste, Große Erwartungen , sah durchaus vielversprechend aus. Das zweite – Grundlagen der Landwirtschaft in den Südstaaten – eher weniger. Aber merkwürdig, dieses Buch fühlte sich so ganz anders als andere Bücher an. Es war auch gar kein Buch, zeigte sich, sondern eine Holzschachtel, so raffiniert geschnitzt und bemalt, dass sie wie ein Buch in einem kalbsledernen Einband aussah. Seltsam! Ich suchte ein Weilchen herum, bis ich den Riegel entdeckt hatte und die Schachtel aufging. Im Inneren fand ich ein Wachspapierpäckchen mit einem dicken Roastbeefsandwich. Ich nahm Sandwich und die Großen Erwartungen und sank mit dem Gefühl von allerfeinstem Luxus ins Bett. Ahhh – ein Bett, ein Buch, ein Kätzchen und ein Sandwich. Mehr brauchte man im Leben eigentlich nicht.
    Eine halbe Stunde später klopfte Vater an die Tür. »Callie?«, rief er leise. Ich wollte aber allein bleiben mit Pip, dem Waisenjungen aus Große Erwartungen , und so schob ich das Buch rasch unter die Decke, zusammen mit
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