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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Jesse James, der laut miauend protestierte. Ich drehte mich zur Wand und tat so, als schliefe ich fest. Vater kam herein. Gleich darauf ging er wieder hinaus, doch nicht ohne erst die Kerze auszublasen, was mich maßlos ärgerte, da wir Kinder keine Streichhölzer in unseren Zimmern haben durften. So blieb mir nichts anderes übrig, als endgültig zu schlafen. Außerdem stand am nächsten Nachmittag meine Klavierstunde an, und es war immer gut, an diesen Tagen ausgeschlafen und in bester Form zu sein, um Miss Brown bloß nicht zu reizen.
    Ich lag da und ließ den Tag noch einmal Revue passieren, während mir langsam die Augen zufielen. Mein Hals brannte noch immer, aber es erfüllte mich doch mit größter Zufriedenheit, dass ich, das einzige Mädchen unter so vielen Brüdern, die Erste war, die Alkohol gekostet hatte. Dachte ich. Später sollte ich herausfinden, dass Mutters Nerventonikum, Lydia Pinkhams Kräuterelixier, einen Alkoholgehalt von fast zwanzig Prozent hatte.

 
     
     
    Sechstes Kapitel
     
    MUSIKSTUNDE
     
    Es ist äußerst schwer, sich immer zu erinnern, dass die Zunahme eines jeden lebenden Wesens durch unbemerkbare schädliche Agentien fortwährend aufgehalten wird …
     
     
    Der Sommer zog sich dahin, Erholung fand ich im kühlen Wasser des Flusses und im dämmrigen Laboratorium meines Großvaters. Mit meinem Notizbuch kam ich gut voran, Seite für Seite füllte sich mit vielen Fragen, gelegentlichen Antworten und unbeholfenen Zeichnungen verschiedener Pflanzen und Tiere. Trotz meiner dringenden neuen Tätigkeiten wurde ich nicht von den Klavierstunden befreit.
    Unsere Klavierlehrerin sah aus wie ein dünner, vertrockneter Stock, doch ihr Lineal konnte sie durchaus mit Wucht schwingen, wenn sie glaubte, niemand sehe zu. Manchmal schlug sie mir so fest auf die Knöchel, dass meine Finger alle Tasten unter ihnen hinunterdrückten, was mitten im Stück einen hässlichen, dissonanten Akkord ergab. Ich frage mich noch immer, ob meine Mutter, die mit ihrem Nähkorb auf der anderen Seite der Schiebetüren saß, sich je wegen dieser grässlichen Töne Gedanken gemacht hat. Aus irgendeinem Grund berichtete ich ihr nie von Miss Browns Übergriffen. Warum eigentlich nicht? Vermutlich hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas, was ich tat und wofür ich mich schämen sollte – was immer das sein mochte –, den Zorn der Lehrerin hervorrief. Tatsächlich schlug Miss Brown auch nicht aufs Geratewohl zu. Ihr Zorn kochte immer dann über, wenn meine Finger sich im Dickicht von Noten verloren, die ich die Woche über fehlerfrei hatte spielen können. (Das über ihnen schwebende Lineal half natürlich nicht gerade dabei.) Ich war ein großer Feigling, ich schäumte innerlich vor Wut, verlor aber niemandem gegenüber je ein Wort darüber. Und warum hatten nur Harry und ich unter dieser verhassten wöchentlichen Zwangskulturvermittlung zu leiden? Meine anderen Brüder genossen stattdessen ihr freies Leben.
    Für Vater lernte ich Kompositionen von Stephen Foster zu spielen, für Großpapa Vivaldi, aber auch Mozart, für den er ebenfalls eine Vorliebe hatte. Er pflegte im Empfangszimmer zu sitzen, solange ich spielte, manchmal las er dabei, manchmal saß er auch nur einfach mit geschlossenen Augen da. Mutter hatte eine Vorliebe für Chopin, Miss Brown für Tonleitern.
    Später kamen Stücke von Scott Joplin hinzu, und die lernte ich nur für mich. Mutter wurde hochgradig nervös, wenn sie sie hörte, doch mir war das gleich. Es war die beste Musik, die meine Brüder und ich je gehört hatten, mit wundervoll rasanten Akkorden und den für Scott Joplin typischen Ragtime-Rhythmen, die die Zuhörer einfach elektrisierten, sodass sie gar nicht anders konnten, als aufzuspringen und zu tanzen. Alle meine Brüder kamen angerannt, wenn ich die ersten Takte von The Maple Leaf Rag anschlug. Dann tanzten sie so wild durch den Salon, dass Mutter sogar um die Bilder an den Wänden Angst hatte. Später bekamen wir ein Grammophon, von da an konnte auch ich mittanzen. Meine Brüder liebten es, das Gerät zu bedienen, und bettelten immer um die Erlaubnis, aber man musste sie genau im Auge behalten – die Kurbel schwebte bei ihnen immer in Lebensgefahr.
    Jim Bowies Lieblingsstück hieß »Katzenmusik«. Dafür setzte er eins seiner armen Kätzchen oben aufs Klavier und brachte es mit einem Streifen Schinken dazu, auf den Tasten auf und ab zu laufen. J. B. fand das schrecklich komisch. Für einen Fünfjährigen ist es das vermutlich.

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