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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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wenigstens einen kurzen Blick zu. Bevor wir aufstehen durften und uns für den Tag in alle Richtungen verteilten, sagte Mutter: »Freitagabend erwarten wir Gäste, ich möchte daher, dass ihr euch alle um viertel nach sechs zur Inspektion bereithaltet.«
    »Verflixt!«, sagte Großpapa. »Wer ist es denn diesmal?«
    »Großvater«, sagte Mutter, »falls du schon anderweitig verabredet bist – es würde uns im Traum nicht einfallen, dich zu bedrängen.«
    Mutter wusste natürlich, dass Großpapa keine anderweitige Verabredung hatte, doch natürlich stellten sein Laboratorium oder die Bibliothek eine ständige Verlockung dar. Sie konnte also nur hoffen. Mir war schon aufgefallen, dass Mutter Großpapa nie nachdrücklich ermunterte, an ihren Abendeinladungen, ihren »Soireen«, wie sie sagte, teilzunehmen. Seine Manieren waren selbstverständlich vorbildlich, er war stets ganz der Gentleman alter Schule, doch er konnte die Unterhaltung immer wieder auf abseitige, wenn auch interessante Themen bringen, die Mutter in feiner Gesellschaft als unpassend empfand. Fossilien konnten so ein Thema sein, und die Frage, ob ihre Existenz das Buch Genesis widerlegte. Oder die Experimente des Mönchs Gregor Mendel zur Fortpflanzung am Beispiel der Erbse. Oder die irrtümliche Annahme, dass es so etwas gab wie »lobenswerten Eiter«. Einmal hatte ich beobachtet, wie meine Mutter ein Schauder überlief, als sie zufällig mitbekam, wie Großpapa einer Gruppe von Damen das Paarungsverhalten der Opiliones – oder Weberknechte – beschrieb. Hinzu kamen seine Prognosen für die Zukunft, wie zum Beispiel, dass der Mensch eines Tages Flugmaschinen bauen und zum Mond reisen würde. Die Gäste begegneten seinen Vorhersagen stets mit der Nachsicht, die einem so alten Kauz zustand, belächelten sie aber insgeheim, während ich mit Großpapa einer Meinung war und mir gut vorstellen konnte, dass so etwas in tausend Jahren möglich war.
    »Wer kommt denn, Mutter?«, wollte Sam Houston wissen.
    »Die Locketts, die Longorias, Miss Brown, Reverend und Mrs. Goodacre. Und eine Miss Minerva Goodacre«, sagte Mutter und betrachtete interessiert ihr Buttermesser.
    Oh. Ich warf einen Blick zu Harry hinüber, der sich ebenfalls für sein Besteck interessierte und es betrachtete, als sähe er es zum ersten Mal. Ich schluckte heftig. Was jetzt? Ich tröstete mich damit, dass mir noch drei Tage blieben, um darüber nachzudenken. So wie Napoleon in seinem Zelt.
    Wenn ich Harry in den nächsten Tagen auf der Treppe begegnete, lächelte ich ihn jedes Mal steif an, doch er beachtete mich nicht weiter. Ich deutete es schon mal als ein gutes Zeichen, dass er mich wenigstens nicht böse anfunkelte.
    Es wurde Freitag, und noch immer hatte ich keinen Plan. Stattdessen wusch und trocknete ich mir die Haare. Anschließend setzte ich mich an meinen Frisiertisch und zählte missmutig hundert Bürstenstriche. Dann zog ich mein bestes Sommerkleid an und die weichen Stiefel, die ich zum Klaviervorspiel getragen hatte, und band mir eine himmelblaue Schleife ins Haar. Himmelblau war die Farbe, die Harry am liebsten an mir mochte. Dann ging ich zu den anderen hinunter.
    Harry sah gut aus und duftete nach einer gewagten Mischung aus Lavendel-Haarpomade und Bay-Rum-Rasierwasser. Man merkte ihm an, wie kribbelig er vor Aufregung war, und er grinste mich sogar an. Wir mussten uns wie die Orgelpfeifen in der Eingangshalle aufstellen, und Sam Houston tat so, als müsste er würgen, als er die Duftwolken einatmete, die von Harry zu ihm herüberzogen. Mutter kam, um uns gründlich zu mustern. Sie trug eins ihrer besten Kleider, das smaragdgrüne mit der kurzen Schleppe, die beim Gehen immer leicht über den Boden schleifte. Mutter inspizierte unsere Stiefel, unsere Zähne, unsere Fingernägel.
    »Calpurnia, um Himmels willen, steh gerade«, sagte sie. »Was ist nur los mit dir? Jim Bowie, deine Nägel sehen ja schlimm aus. Als hättest du den Garten damit umgegraben. Calpurnia, geh mit ihm ins Bad.«
    Dankbar, dass ich etwas zu tun hatte, führte ich ihn ins Bad. Während ich ihm die Nägel schrubbte, fragte er: »Heiratet Harry?« Vor lauter Schreck ließ ich die Bürste fallen.
    »Wie kommst du denn darauf?«
    »Ich hab gehört, wie Mutter so was gesagt hat. Zieht Harry dann weg?«
    »Ich hoffe nicht, J. B.«
    »Ich auch.«
    Ich arbeitete so lange an ihm, bis die ersten Gäste eintrafen und wir uns erneut an der Tür aufstellen mussten. Als Miss Brown kam, gab ich ihr die Hand und

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