Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
der ihr tief auf den Rücken hing, und wenn sie ein lebhaftes Stück auf dem Klavier spielte, flog er hin und her, so als hätte er ein Eigenleben. Ihre Augenfarbe war wirklich ungewöhnlich, mal eher blau, mal eher grün, die Schattierung hing stets davon ab, welches Haarband sie trug. Und Lula hatte noch eine Besonderheit: Ob Sommer oder Winter, immer hatte sie ganz zarte Schweißperlen auf dem Nasenrücken. So zart waren sie, dass der Finger kaum feucht wurde, wenn man darüberstrich, doch kaum wischte man die Tropfen weg, waren sie wieder da. Das hört sich vielleicht nicht sehr anziehend an, doch in Wirklichkeit war es nicht abstoßend, sondern interessant. Als wir kleine Mädchen waren, konnte ich immer wieder über Lulas Nase wischen und zusehen, wie sich sofort neue Perlen bildeten. Erst wenn Lula es leid war, hörte ich damit auf. Es schien einfach keine Erklärung dafür zu geben.
Man sollte vielleicht meinen, dass es für jemanden mit so vielen Brüdern eine große Erleichterung sein musste, eine Freundin wie Lula zu haben. Im Allgemeinen war das auch so, aber manchmal konnte Lula auch ziemlich langweilig sein. Sie mochte nicht mit mir zum Stauwehr gehen, um nach Insekten oder anderem für meine Sammlung zu suchen (Schlangen), sie mochte nicht mit mir zum alten Übungsplatz der konföderierten Truppen gehen (Blasen an den Füßen, Schlangen), und sie mochte auch nicht mit mir zum Schwimmen an den Fluss gehen (ausziehen, Schlangen). Doch wir teilten uns eine Bank in der Schule, schon seit dem ersten Tag. So hatte unsere Freundschaft begonnen, und das war wohl auch zumindest teilweise der Grund, weswegen sie hielt. Außerdem glaube ich, dass Lulas Mutter sehr hinterher war, dass wir Freundinnen blieben. Schon möglich, dass sie fand, es sei für Lula gesellschaftlich von Nutzen, mit einem Mitglied der Familie Tate befreundet zu sein. Konnte es vielleicht sogar sein, dass ihre Mutter gewisse Hoffnungen hegte, dass Lula sich eines schönen Tages einen der Tate-Söhne als Ehemann angelte? Denkbar war es schon. Vermutlich hatten wir mehr Geld als andere Familien in unserer Gegend. Doch auch Lulas Familie schien durchaus ein komfortables Leben zu führen. Der Vater besaß Stallungen, sie konnten sich Klavierstunden für die Tochter leisten, und sie hatten ein Hausmädchen, wenn auch keine Köchin. Lula hatte nur einen Bruder, den geistig behinderten Toddy. Toddy ging nicht zur Schule, sondern saß nur den ganzen Tag in einer Ecke seines Zimmers, wo er unablässig hin und her schaukelte und die zerlumpten Reste eines alten Quilts an sich drückte. Er war ganz friedlich, solange man nicht versuchte, ihm seine Decke wegzunehmen; dann war er völlig verstört und stieß schreckliche Töne aus, die einem lauten Muhen glichen, bis er sie zurückbekam. Seine Familie fand, es war den Ärger nicht wert, ihm die Decke wegzunehmen, um sie zu waschen, also ließ man sie ihm, auch wenn sie ekelerregend stank. Von Toddys gelegentlichen Anfällen einmal abgesehen, kam mir das Haus der Gates, verglichen mit unserem, jedoch still vor.
Lula gewann für ihre Handarbeiten Preise, wohingegen meine eigenen schief und krumm und ein jämmerlicher Anblick waren. Es war mir unbegreiflich, wie hingebungsvoll sie sich beim Sticken in der Schule dem Knötchenstich widmen konnte oder einem in Schiffchentechnik anzufertigenden Spitzenkragen.
»Das ist doch auch nichts anderes, als wenn du ein neues Klavierstück einstudierst, Callie«, sagte sie oft, »und damit hast du doch auch keine Probleme. Du musst einfach nur so lange üben, bis du es hinbekommst.«
Ich dachte darüber nach und musste Lula schließlich recht geben. Warum also fand ich, dass Musik etwas anderes war als Handarbeiten? Wenn man Klavier spielte, lösten die Töne sich Augenblicke später in Luft auf, nichts war mehr da. Und doch brachte die Musik so viel Freude, selbst dann noch, wenn die Töne verschwanden. Und wenn jemand einen Rag spielte, dann freuten sich alle so, dass sie im Salon herumtanzten. Aber was brachte schon das Sticken? Sicher, man erhielt etwas Dekoratives, Bleibendes, manchmal sogar Nützliches, doch die Arbeit daran war still und langweilig und eignete sich eigentlich nur für Regentage, an denen man dasaß und nur das gleichmäßige Ticken der Uhr im Salon einem Gesellschaft leistete. Arbeit für graue Mäuse.
Immerhin konnte ich Lula überreden, einige Arrangements für Klavier von John Philip Sousa vierhändig mit mir zu spielen, und es wurde
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