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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Glühwürmchen zu warten, stellten meine Brüder sich schnell wieder auf die Veranda, sobald ich Petzis Glas ins Gras stellte. Großpapa beobachtete alles von seinem Schaukelstuhl aus und nippte an seinem Bourbon aus dem Laden. Ich nahm den Deckel ab und trat einen Schritt zurück.
    Eine Minute lang hockte Petzi weiter reglos da. Dann kroch sie langsam auf den Rand des Glases und verließ ihren gläsernen Kokon. Während sie langsam aufs Gras taumelte, kam Ajax um die Ecke getrabt. Petzi streckte die bebenden Flügel weit aus. Zu spät, aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ajax auf einmal mit wehenden Ohren heranstürmte, voll Vorfreude auf eine Runde Fangen. Petzi schwang sich taumelnd in die Höhe, kam aber nicht weit, bevor sie sich am Boden ausruhen musste. Sofort näherte sich Ajax wieder. Er würde das beste Stück meiner Sammlung schlucken, mein wissenschaftliches Projekt, meine Petzi. Wut kochte in mir hoch. Blöder Hund! Ich rannte zu ihm und brüllte Ajax! – so laut, dass ich selbst erschrak. Wer hätte gedacht, dass meine Lungen das schafften! Die Vögel in den Bäumen ergriffen die Flucht. Ajax zögerte. Ich packte ihn am Halsband, doch er entwischte mir mit einem Sprung zur Seite. Für ihn war das anscheinend ein unterhaltsames neues Spiel. Er schnappte wieder, und Petzi schwang sich von Neuem in die Luft, dieses Mal etwa bis in Brusthöhe. Dabei schlug sie mit den Flügeln wie eine unbeholfene Junghenne, die ihre Flügel ausprobiert.
    »Nein!«, schrie ich, und das war ein Wort, das Ajax kannte. Petzi zwischen den Pfoten, schaute er überrascht zu mir hoch. Das war doch alles ein großer Spaß, oder? Dinge zu apportieren, die durch die Gegend flogen, war doch sonst auch seine Aufgabe. Ich rannte wieder zu ihm, als Petzi sich mit einer gewaltigen Anstrengung ein weiteres Mal aufschwang, und in diesem Bruchteil einer Sekunde verwandelte sie sich von einem plumpen Landwesen in etwas anderes, ein Geschöpf des Windes, eine Bewohnerin der Lüfte.
    Verwundert sah ich ihr nach. Petzi sah aus, als hätte sie nie etwas anderes gemacht als zu fliegen. Ajax zerrte schnaubend an seinem Halsband, und ich ließ ihn los. Nun war da ja keine Motte mehr, die er fangen konnte.
    »Wow!«, riefen meine Brüder. »Toll gemacht, Callie«, sagte einer noch, und ein anderer: »Ich hab gedacht, die ist hinüber, die Motte, aber garantiert.«
    Großpapa hob sein Glas und prostete Petzi zu, die zwischen den Büschen verschwand.
    Später am Abend, während es langsam dunkel wurde, saß ich ganz allein auf der vorderen Veranda. Ich zögerte das Schlafengehen so lange hinaus, bis selbst die weißen Lilien entlang dem Weg zum Haus kaum noch zu sehen waren. Sie glühten im Dunkel wie blasse Miniatursterne, die auf die Erde gefallen waren. Auf einmal sauste etwas direkt an meinem Kopf vorbei durch die Luft, auf die Lilien zu, wo es lautstark raschelnd in einer Blüte nach der anderen verschwand. Es hörte sich an wie ein Kolibri, aber ich konnte nichts sehen. Flogen Kolibris auch nachts? Eher nicht. War es vielleicht eine nektarsaugende Fledermaus? Ich wusste es nicht, und obwohl ich nicht genug sah, um mir sicher sein zu können, entschied ich, es müsse Petzi sein. Wenigstens wollte ich das glauben.
    Ich wünschte mir ein gutes Ende der Geschichte.

 
     
     
    Zehntes Kapitel
     
    LULA SORGT
    (UNGEWOLLT)
    FÜR ÄRGER
     
    Die Steindrossel in Guiana, die Paradiesvögel u. e. a. scharen sich zusammen, und ein Männchen um das andere entfaltet sein prächtiges Gefieder, um in theatralischen Stellungen vor den Weibchen zu paradieren, welche als Zuschauer dastehen und sich zuletzt den anziehendsten Bewerber erkiesen.
     
     
    Es dauerte lange, bis meine Freundin Lula über die Schmach hinwegkam, dass sie sich nach ihrem Klaviervorspiel in aller Öffentlichkeit übergeben hatte. Wochenlang redete sie von nichts anderem. Irgendwann war ich es leid und sagte, es hätte noch viel schlimmer kommen können – dem großen Meister Frédéric Chopin sei einmal dasselbe passiert, und zwar vor dem König und der Königin von Preußen, vor denen er auftreten sollte.
    Sofort sah Lula fröhlicher aus. »Ist das wahr?«, fragte sie.
    Nein, die Geschichte war frei erfunden. Aber danach ging es Lula besser, und sie redete nicht mehr über die Sache.
    Damals machte ich mir keine Gedanken darüber, aber ich glaube, Lula war ein schönes Mädchen. Ihre honigblonden, von einzelnen silbrigen Strähnen durchzogenen langen Haare waren zu einem Zopf geflochten,

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