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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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auf.
    »Ich schlage vor, wir fangen mit Socken für Jim Bowie an, ja?«, sagte Mutter. »Ganz schlichte kleine. Muster zu stricken lernst du dann später. Wir fangen mit dem Bündchen an. Nimm mal – sagen wir – vierzig Maschen auf.« Sie reichte mir vier winzige Stricknadeln.
    »Gleich vier?« Ich zog die Stirn kraus. »Was soll ich denn mit vier?«
    »Du strickst die ganze Zeit im Kreis, statt am Ende jeder Reihe wieder umzukehren.«
    Himmel hilf! Ich tat mich ja schon mit zwei Nadeln schwer genug. Die Sache würde offensichtlich viel schwieriger, als ich gedacht hatte. Mutter gab ermutigende Töne von sich, während ich die erste Reihe meiner ersten Socke aufnahm. So viele spitze Nadeln stachen in unerwartetem Winkel heraus, dass ich mir vorkam, als würde ich mit einem Stachelschwein jonglieren.
    »Sieh mal«, sagte Mutter, »wenn du dir den Faden um den Ringfinger legst – so –, dann kannst du die Spannung leichter regulieren, und dann werden auch die Maschen gleichmäßig.« Ich versuchte, es ihr nachzumachen, und tatsächlich sah die nächste Reihe schon besser aus. Die übernächste geriet mir sogar noch etwas besser. Hatte man erst einmal in den Rhythmus hineingefunden, war man ruckzuck, noch ehe man sich versah, mit einer Nadel fertig und konnte die nächste in Angriff nehmen.
    »So, und jetzt kommt das Abnehmen, damit die Socken zum Knöchel hin enger werden. Ja, genau so.«
    Langsam, extrem langsam, nahm die Wollmasse in meinen Händen Form an. Der Nachmittag verging, und wenn ich auch nicht gerade behaupten würde, das Stricken habe Spaß gemacht, so war es doch nicht ganz so schrecklich wie befürchtet. Am Ende hatte ich ein komisches kleines gestricktes braunes Etwas in der Hand. Ich hielt es hoch, um es zu begutachten, und beschloss, es sah erkennbar nach einer Socke aus. Mutter schien durchaus zufrieden. »Sieht ganz so aus wie die erste Socke, die ich in deinem Alter gemacht habe.«
    »Na, das war’s dann«, sagte ich und packte mein Strickzeug zusammen. »Fertig.«
    »Wie meinst du das – fertig? Wo willst du denn hin?«
    Ich sah sie nur verständnislos an.
    »Jetzt fangen wir mit der nächsten an«, sagte Mutter.
    Ich jaulte auf. »Der nächsten ?« Hatte sie den Verstand verloren? Allein diese eine Socke zu stricken hatte mich Stunden gekostet.
    »Natürlich die nächste, und bitte mäßige deine Stimme. Was soll Jim Bowie denn mit nur einer Socke anfangen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. Und hätte gern noch hinzugefügt: Und es ist mir auch egal. Meinetwegen kann er sich eine Handpuppe daraus machen.
    »Und was ist mit den anderen Jungen? Und Vater? Und Großvater?«, fragte Mutter.
    Ich zählte durch. Sechs Brüder plus Vater plus Großpapa, da kamen ziemlich viele Füße zusammen. Also würde ich auch morgen und übermorgen und überübermorgen dasitzen und stricken. Meine Gedanken fuhren Karussell. Ich sah mein Leben vor mir als eine endlose Reihe von Socken, die sich bis zu einem fernen Horizont erstreckten, ein gähnender Abgrund der Langeweile, mit nichts gefüllt als mit Sockenstricken. Mir würde übel.
    »Bitte, Mutter«, sagte ich flehentlich, »lass mich morgen weitermachen. Ich glaube, meine Augen haben sich schon überanstrengt.«
    Sie sah mich besorgt an, offensichtlich hatte ich einen empfindlichen Punkt getroffen. Womöglich schreckte sie der Gedanke, was eine Brille aus den ohnehin nicht allzu gewinnenden Zügen ihrer Tochter machen würde. Eine winzige Erkenntnis, mehr nicht, aber vielleicht könnte sie einmal nützlich werden, und ich beschloss, sie für spätere Gelegenheiten zu bewahren. Vielleicht konnte ich ja auch eine Neigung zu heftigen Kopfschmerzen pflegen.
    »Nun gut«, sagte Mutter, »für heute reicht es.«
    Ich schnappte mir meinen Strickbeutel und machte, dass ich wegkam, bevor ihr vielleicht noch weitere häusliche Fertigkeiten einfielen, die ich erlernen könnte. Ich brachte meinen Beutel in mein Zimmer, dann sauste ich wieder nach unten und hinaus ins abgedunkelte Laboratorium, doch Großpapa war nicht da. Vermutlich war er draußen und sammelte Pflanzen. Regentage waren dafür besonders gut geeignet, was ein Glück war, denn an solchen Tagen war es völlig unmöglich, Insekten oder auch andere Tiere aufzuspüren. Alle machten sich unsichtbar und blieben verborgen, bis die Sonne wieder herauskam. Ich zündete eine der Lampen an, setzte mich auf einen der schäbigen Polstersessel und betrachtete nachdenklich die Reihen der glänzenden Flaschen.

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