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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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zuzufügen?«
    Ich schaute hinunter und merkte erst da, dass ich die ganze Zeit meinen Stift in die geflochtene Armlehne gestoßen hatte.
    »Ich hab dich in letzter Zeit selten zu Gesicht bekommen«, sagte Großpapa.
    »Das liegt daran, dass ich lernen muss, wie man Köchin wird. Oder Ehefrau, nehme ich an.«
    »Ah. Und wir alle haben die Früchte deiner Mühen genießen dürfen.«
    »Das musst du nicht sagen«, bemerkte ich unglücklich.
    Danach saßen wir stumm da, und zu allem Überfluss merkte ich auch noch, wie eine versteckte Mücke mich in die Knöchel stach. Erst als sie mich schon mehrfach gestochen hatte, entdeckte ich sie, und gefräßig, wie sie war, hatte sie sich in einen fetten fliegenden Tropfen Blut verwandelt – meines Blutes! Sie ließ sich dicht neben meinen Füßen auf der Veranda nieder, und ich versuchte, darauf zu treten. Sie wollte davonfliegen, war aber zu schwer dafür. Ich erwischte sie mit der Kante meines Schuhs, und eine winzige Fontäne Blut spritzte auf den grauen Anstrich der Veranda. Ich wurde nachdenklich. Anscheinend war doch etwas daran an dem Sprichwort »Übermut tut selten gut.« Vor mir lag der blutverschmierte Beweis. Die Mücke war eindeutig sehr erfolgreich darin, reichlich Nahrung zu finden – aber ein völliger Versager, wenn es darum ging, alt zu werden und irgendwann friedlich einzuschlafen, umgeben von einer großen Schar klagender Enkel. War sie dann also gut an ihre Umgebung angepasst oder nicht? Aber vielleicht konnte mir das auch egal sein. Das hing ganz davon ab, was Großpapa als Nächstes sagen würde. Würde er meine Verurteilung zu lebenslanger häuslicher Schufterei umwandeln?
    Am anderen Ende der Veranda erspähte Travis das erste Glühwürmchen und forderte den Orden ein. Ich räusperte mich. »Großvater …« Dann versagte mir die Stimme.
    »Ja, Calpurnia?«
    »Mädchen … Mädchen können doch auch Wissenschaftler werden.« Wir taten beide so, als würden wir das Beben in meiner Stimme nicht hören. »Oder?«
    Er zog an seiner Zigarre, stieß langsam den Rauch aus und klopfte die Asche ab.
    »Hast du diese Frage schon deiner Mutter gestellt? Oder deinem Vater?«
    »Was?«, fragte ich. »Nein, natürlich nicht. Wieso sollte ich?«
    »Weil sie vielleicht in diesen Dingen ein Wörtchen mitzureden haben. Hast du schon mal darüber nachgedacht?«
    »Ach«, sagte ich, und meine Stimme klang verbittert, »ich weiß schon, was die dazu sagen würden. Was meinst du, wieso ich nicht mehr aus der Küche herauskomme? Genau deswegen frage ich ja dich!«
    »Verstehe«, antwortete er. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir vor einigen Monaten am Fluss saßen und über Kopernikus und Newton sprachen?«
    »Ja, ich kann mich gut erinnern.« Wie könnte ich das je vergessen?
    »Haben wir da nicht auch über Madame Curies Element gesprochen? Über Mrs. Maxwells Kreischeule?? Oder Miss Annings Flugsaurier, den Pterodactylus? Ihren Ichthyosaurier?«
    »Nein.«
    »Miss Kovalevskys Differentialgleichungen? Oder Miss Birds Reisen zu den Sandwich-Inseln?«
    »Nein.«
    »Welche Ignoranz«, murmelte er, und sofort traten mir die Tränen in die Augen? War ich wirklich so dumm? Großpapa fuhr fort: »Bitte vergib mir meine Dummheit, Calpurnia. Du hast mir ja wirklich zur Genüge vor Augen geführt, wie dürftig das Niveau der öffentlichen Bildungseinrichtungen ist. Ich hätte wissen müssen, dass man euch im Dunkeln lassen würde, was gewisse Aspekte der Naturwissenschaften angeht. Aber nun will ich dir von diesen Frauen erzählen.«
    Alles, was er mir erzählte, sog ich auf wie ein lebendiger Schwamm. Aber war da nicht etwas in seiner Stimme, ein Zögern, eine gewisse Zurückhaltung, die ich nie zuvor bemerkt hatte? Wir wurden unterbrochen, als Mutter uns Kinder zusammenrief und zu Bett schickte. In letzter Zeit wurden meine Unterhaltungen mit Großpapa anscheinend regelmäßig unterbrochen. In letzter Zeit schien nie genug Zeit zu sein.
    Einstimmig erklärten meine Brüder und ich an diesem Abend die Glühwürmchensaison des Jahres 1899 für beendet. Der Orden würde nicht mehr verliehen werden.
    Travis’ Glühwürmchen war übrigens tatsächlich das einzige, das sich an diesem Abend sehen ließ, und obwohl ich wusste, dass sie im nächsten Jahr zurückkehren würden, fühlte es sich doch so an, als wäre eine Spezies ausgestorben. Wie traurig, der Letzte seiner Art zu sein, ganz allein sein Signal ins Dunkel zu senden, ins Nichts. Aber ich, ich war doch nicht allein, oder?

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