Camel Club 03 - Die Spieler
verstehen. Sie hätte es auch nicht anders von ihm erwartet.
Sie nuschelte etwas in sein Richtung, und er antwortete mit ein paar Worten auf ihre achtlose Begrüßung. Anscheinend freute sie sich darüber, denn sie nickte beifällig, und ein Lächeln kerbte ihre eingesunkenen Wangen. Wie üblich hatte sie ihn wohl schon wahrgenommen, ehe er ins Zimmer gekommen war. Ihre Erklärung dafür lautete, sie könne seine Präsenz spüren. Er habe eine besondere Ausstrahlung, hatte sie behauptet; eine angenehme, klar erkennbare Aura. Als ein Mann, der ungern irgendwo Spuren hinterließ, war das für Finn ein Grund zu ernster Sorge. Aber wie konnte man seine Aura abstreifen?
Aus der Kinderzeit entsann er sich an die einst hochgewachsene, kräftige Gestalt und die grazilen Pianistinnenhände seiner Mutter. Jetzt war sie krumm und verschrumpelt. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht. Es hatte sich einst durch eine außergewöhnliche, zarte Schönheit ausgezeichnet, die abends geschwunden war; sie war launisch und bisweilen gewalttätig geworden. Niemals gegen ihn, sondern gegen sich selbst. Immer dann war Finn eingeschritten – schon im Alter von sieben Jahren. Durch diese Erlebnisse war er schnell erwachsen geworden, viel schneller als normal.
Inzwischen war alle Schönheit aus ihrem Gesicht gewichen, ihr Körper geschrumpft, die einst hübschen Hände lagen narbig und faltig in ihrem Schoß. Sie war erst Anfang siebzig, wirkte jedoch, als stünde sie mit einem Bein im Grab. Dennoch konnte sie ihn noch immer mit ihrer Empörung beeindrucken, mit der Forderung, ein Unrecht wiedergutzumachen. Trotz ihres körperlichen Verfalls hatten ihre Worte die Macht behalten, ihm ein Gefühl jenes Leids und jener Ungerechtigkeit zu vermitteln, die sie selbst hatte erdulden müssen.
»Ich habe die Nachrichten gesehen«, sagte sie mit undeutlicher Stimme. »Es ist getan, und so ist es gut.« Finn stand auf und blickte durchs Fenster auf das Gelände, das die Einrichtung umschloss, von der er vermutete, dass man sie nach wie vor Sanatorium nannte. Auf der Fensterbank lagen ordentlich aufgestapelt die vier Zeitungen, die sie täglich las, Seite für Seite, Wort für Wort. Wenn sie mit den Zeitungen fertig war, hörte sie Radio oder sah fern, bis sie spätabends einschlief. Am Morgen gab es neue Nachrichten, die sie verschlang. Nichts auf der Welt schien ihr zu entgehen.
Harry nahm wieder im Sessel Platz. »Wie steht es um deine Gesundheit?«
»Welche Gesundheit?« Sie lächelte und wog den Kopf hin und her. Das hatte sie schon immer getan, erinnerte sich Finn. Früher hatte er jedes Mal gedacht, sie höre ein Lied, das sonst niemand hören konnte. Als Kind hatte er diese Eigentümlichkeit gemocht, weil es ihr etwas Geheimnisvolles verlieh, wie Kinder es gern an ihren Eltern sahen. Heute gefiel es ihm überhaupt nicht mehr. »Ich habe keine Gesundheit. Du weißt, was man mir angetan hat. Du wirst doch wohl nicht glauben, dass so etwas natürlich ist. So alt bin ich nun auch wieder nicht. Ich sitze hier und vermodere jeden Tag ein bisschen mehr.«
Vor Jahren habe man sie vergiftet, hatte sie ihm erzählt. Irgendwie habe man sie aufgestöbert; auf welche Weise, wisse sie nicht genau. Das Gift hätte sie damals töten sollen, doch sie habe überlebt. Nun aber zerfräße es sie von innen, befiele nacheinander die Organe, bis keine mehr übrig seien. Wahrscheinlich glaubte sie, sie würde sich eines Tages in Luft auflösen.
»Du kannst fortgehen. Du bist nicht wie die anderen hier.«
»Und wohin soll ich gehen? Wo soll ich hin? Hier bin ich gut aufgehoben. Ich bleibe, bis man mich im Sack wegschafft und einäschert. So wie ich es wünsche.«
Finn hob beschwichtigend die Hände. Bei jedem seiner Besuche führten sie die gleiche Diskussion, und jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis. Sie hatte Furcht und das Gefühl, lebendig zu verfaulen, und hier wollte sie sterben. Er hätte das ganze Gespräch, sämtliche Äußerungen und Gegenreden, aufsagen können; er kannte den Wortlaut in- und auswendig.
»Was ist mit deiner Frau und den wundervollen Kindern?«
»Sie sind wohlauf. Sie würden dich bestimmt gern sehen.«
»An mir gibt es nicht mehr viel zu sehen. Deine Kleine, Susie … hat sie noch den Teddybären, den ich ihr geschenkt habe?«
»Er ist ihr Lieblingskuscheltier. Man sieht sie nie ohne den Bären.«
»Sag ihr, sie darf ihn niemals weggeben. Er ist das Zeichen meiner Liebe. Sie soll ihn nie aufgeben. Ich konnte deinen Kindern niemals
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