Camel Club 03 - Die Spieler
eine anständige Großmutter sein. Ich weiß es. Aber es würde mich umbringen, wenn sie von dem Bären lässt. Das wäre mein Tod.«
»Ich weiß, und Susie weiß es auch. Aber wie ich schon sagte, sie hat den Bären unheimlich lieb.«
Harrys Mutter stemmte sich hoch, ging auf wackligen Beinen zu einer Kommode, öffnete eine Schublade und holte ein Foto heraus. Mit Klauenfingern umklammerte sie das Bild, ehe sie es ihm reichte. »Nimm es«, sagte sie. »Du hast es verdient.«
Er nahm das Foto und hielt es ins Licht. Es war das gleiche Bild, das Judd Bingham, Bob Cole und Lou Cincetti gesehen hatten, ehe sie gestorben waren. Auch Carter Gray hatte es zu sehen bekommen, bevor man ihn ins Jenseits gesprengt hatte.
Mit dem Zeigefinger strich Finn an den feinen Konturen von Rayfield Solomons Wange entlang. Schlagartig kehrte die Vergangenheit wieder: die Trennung, die Nachricht vom Tod des Vaters, die vollständige Auslöschung des Vorlebens und der mühselige Aufbau einer neuen Existenz – und im Laufe der Jahre die erschreckenden Enthüllungen einer Witwe und Mutter, die ihrem Sohn berichtete, was sich ereignet hatte.
»Und nun Roger Simpson«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte Finn. »Der Letzte.« In seiner Stimme klang eine gewisse Erleichterung mit.
Er hatte Jahre gebraucht, um Bingham, Cincetti und Cole aufzuspüren, hatte sie schließlich aber alle gefunden. Vor ein paar Monaten dann hatte er sich darangemacht, sie zu töten. Wo er Gray und Senator Roger Simpson finden konnte, wusste er; sie waren Personen des öffentlichen Lebens. Allerdings gaben sie auch schwierigere Ziele ab. Deshalb hatte er beschlossen, zunächst den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Dadurch wuchs zwar die Wahrscheinlichkeit, dass Gray und Simpson gewarnt wurden, aber das hatte er bei seinen Planungen berücksichtigt. Außerdem hatte Gray einen Großteil des Personenschutzes verloren, als er aus dem Regierungsdienst ausgeschieden war. Finn hatte ihn erledigt, obwohl er vorgewarnt gewesen war. Als Nächster war Simpson an der Reihe. Auch Senatoren genossen Personenschutz, doch Finn war zuversichtlich, ihn ebenfalls zu erwischen.
Wenn Finn an das Leben dachte, das er jetzt als Teil einer fünfköpfigen Familie in einem ganz normalen Vorort einer Stadt in Virginia führte – mit nettem Haushund, Musikunterricht, Football und Baseball und Schwimmausflügen –, und dieses Leben mit dem Dasein verglich, das er als Kind hatte durchstehen müssen, hatte dieser Vergleich eine beinahe niederschmetternde Wirkung auf sein Gemüt. Deshalb hielt er diese beiden Leben in seinem Denken meist auseinander. Deshalb war er Harry Finn, König der Schubläden. Er verstand es, in seinem Geist Wände zu errichten, die nichts durchdringen konnte.
»Lass mich dir eine Geschichte erzählen, Harry«, sagte seine Mutter.
Er lehnte sich in den Sessel und lauschte ihr, obwohl er das alles schon zigmal gehört hatte; er hätte es genauso gut erzählen können wie seine Mutter. Trotzdem hörte er zu, als sie in unstimmigen Wortcollagen sprach, die dennoch lebendige Darstellungskraft besaßen; ihre Erinnerungen schufen eine beredte und sachliche Faktizität, wie nur die Wahrheit sie hervorbrachte. Sie war gleichermaßen wunderbar wie bestürzend, ihre Fähigkeit, eine seit Jahrzehnten vergangene Welt mit solcher Bildhaftigkeit heraufzubeschwören, dass sie das Zimmer, in dem sie saßen, mit jenem quälenden inneren Schmerz zu erfüllen schien, wie der Anblick eines Scheiterhaufens ihn verursachen mochte. Und wenn sie endete und ihre Kräfte verbraucht hatte, würde er ihr einen Abschiedskuss geben und seine Reise fortsetzen, eine Reise, die er für sie unternahm. Und vielleicht auch für sich selbst.
KAPITEL 29
»Beruhige dich, Caleb«, sagte Stone. »Und erzähl mir genau, was passiert ist.« Stone hatte auf der Fahrt nach Maine am Straßenrand gestoppt, als er Calebs hysterischen Anruf erhielt. Zehn Minuten lang lauschte er der atemlosen Schilderung der Begegnung seines Freundes mit Jerry Bagger höchstpersönlich. »Bist du dir ganz sicher, Caleb, dass er nichts davon gemerkt hat, dass du lügst? Vollkommen sicher?«
»Ich war echt gut im Schwindeln, Oliver. Du wärst stolz auf mich gewesen. Er hat gesagt, ich soll ihn anrufen, wenn mir noch irgendwas einfiele. Er bietet eine fünfstellige Summe für Informationen.« Kurz schwieg Caleb. »Und ich habe herausgefunden, dass ihr richtiger Name Annabelle Conroy lautet.«
»Verrate das bloß
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