Camel Club 04 - Die Jäger
Beweggrund geben.
Knox starrte auf den Bildschirm und las die militärischen Unterlagen vieler Männer und Frauen, die in Vietnam gedient hatten. Irgendwann erschöpften sich die einschlägigen digitalen Aufzeichnungen, und nachdem er sich mit einem anderen Archivar besprochen hatte, der ihn dabei unterstützte, die Suche genauer einzugrenzen, nahm er sich die Kartons vor. Ohne Erfolg durchsuchte er dreißig Stück. Gerade verfestigte sich bei ihm die Überlegung, Feierabend zu machen, da ergriff seine Hand einen Stapel Papier, dessen erste Seite auf Anhieb seine Aufmerksamkeit erregte.
Knox beugte sich vor – und langsam schien die Räumlichkeit rings um ihn her aus seiner Wahrnehmung zu verschwinden. Er las die Einsatzgeschichte eines Soldaten namens John Carr, eines Rekruten, den man rasch zum Sergeant befördert hatte. Die Schilderungen, die Knox so in den Bann zogen, waren prall gefüllt mit Carrs heroischen Taten, die er vor fast vierzig Jahren innerhalb von nur fünf Stunden vollbracht hatte.
Bei einer zahlenmäßigen Überlegenheit des Gegners von zehn zu eins hatte Carr eigenverantwortlich einen feindlichen Angriff abgewehrt, seine Kompanie gerettet und mehrere verletzte Kameraden in Sicherheit geschleppt. Dabei hatte er mindestens zehn gegnerische Soldaten getötet, einige davon im Nahkampf. Dann hatte er sich in einem Maschinengewehrnest festgesetzt, um die Nordvietnamesen in Schach zu halten, während um ihn herum Geschossgarben pfiffen und es Mörsergranaten hagelte. Er gab die Stellung erst auf, als Luftunterstützung angefordert werden musste, um der Kompanie den ungefährdeten Rückzug zu ermöglichen. Als Carr das Gefechtsfeld verließ, troff er vom eigenen Blut. Kugeln und Macheten hatten ihm Wunden zugefügt, die zu bleibenden Narben werden sollten.
Knox hatte selbst an Dschungelkämpfen teilgenommen. Er kannte das Chaos und das Grauen, die solche Auseinandersetzungen prägten. Auch er war verwundet worden und hatte Narben zurückbehalten. Während mancher Gefechte, in die er verwickelt worden war, war er fest davon überzeugt gewesen, sein letzter Tag auf Erden sei angebrochen. Noch in den letzten Tagen des Krieges in Südostasien war er an erfolgreichen amerikanischen Vorstößen beteiligt gewesen, doch zu der Zeit hatten Erfolge im Feld schon keine Bedeutung mehr gehabt. Falls sie überhaupt je eine Bedeutung gehabt hatten.
Aber Knox hatte noch nie von einem Soldaten gehört oder gelesen, der Dinge vollbracht hatte wie Carr an jenem denkwürdigen Tag. Es übertraf jedes Wunder. Es musste ohne Einschränkung als übermenschliche Leistung bewertet werden, so abgedroschen das klingen mochte. Knox’ Respekt vor dem Mann wurde immer größer.
Solchem Heldenmut musste der verdiente Lohn gefolgt sein. Die Mühlen des Militärs malten in vieler Hinsicht langsam, aber Tapferkeit im Feld wurde schnell belohnt – und sei es aus keinem anderen Grund, als andere Soldaten zum Nacheifern zu motivieren. Außerdem lieferten solche Vorkommnisse Material für Propagandaaktionen. Der Heldenmut und die außergewöhnliche Kampftüchtigkeit, die Carr bewiesen hatte, hätten ihm ohne Weiteres den höchsten Orden für Tapferkeit einbringen können, den die USA zu vergeben hatte, die Medal of Honor. In seinen Auslassungen hatte Hayes aber nichts Dahingehendes erwähnt. Ebenso wenig war seitens der Presse etwas verlautbart worden, als man auf dem Nationalfriedhof Arlington Carrs vorgebliches Grab geöffnet hatte.
Knox musste noch mehrere Kartons auspacken und sehr viele Seiten umblättern, bis sich die Angelegenheit schließlich in neuem Licht zeigte.
Man hatte Carr mehrere Orden unmöglich verweigern können, da die erlittenen Verwundungen einen ausreichenden Beweis darstellten. Insgesamt hatte er – auch für in anderen Gefechten davongetragene Verletzungen – vier Purple Hearts erhalten. Dann war erwogen worden, ihn mit dem Bronze Star auszuzeichnen, doch das Datum des Dokuments lag lange nach den wundersamen Taten John Carrs im Felde. Und nach Knox’ Empfinden wäre der Bronze Star, obwohl durchaus prestigeträchtig, nicht im Entferntesten eine gerechte Anerkennung dessen gewesen, was Carr geleistet hatte. Für Knox’ Begriffe war der Bronze Star eine Art Zwitter. Er konnte für Heldenmut im Krieg verliehen werden, aber auch für überragende Dienste an der Allgemeinheit. Der Silver Star, das Distinguished Service Cross und die Medal of Honor, das höchste Dreigestirn aller Orden, die ein Soldat
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