Camorrista
Verkehrspolizei in Casale Monferrato war. Scheint ihn zu interessieren.
»Sie hatten uns wegen einer Massenkarambolage in einer Autobahnausfahrt gerufen. Fünf Autos, zwei Verletzte, ein schönes Fiasko. Der ganz vorne war ein junger Typ, ein paar Jahre älter als du. In dem allgemeinen Chaos fiel mir auf, dass er sich nicht um die Papiere kümmerte, sondern sich wieder in Bewegung setzen wollte. Er war der Erste in der Reihe, sie hatten ihm den Kofferraum eingefahren, der voller Hartschalenkoffer
mit Metallverstärkung war, weißt du, solche, die man für irgendwelche Instrumente braucht. Er hatte einen ganz schönen Schaden davongetragen, und mit Sicherheit war es nicht seine Schuld, aber er schien es nicht abwarten zu können wegzukommen. Während meine Kollegen damit beschäftigt waren, alles aufzunehmen, habe ich unseren Wagen vor sein Auto gestellt. Ich kann nicht vergessen, wie er mich durch die Windschutzscheibe ansah. Wir schafften es, ihn festhalten, bevor er über die Leitplanke klettern und quer durch die Felder entkommen konnte. In einem Koffer hatte er sechstausend Ecstasy-Pillen.«
Cocíss stößt aufgebracht die Luft aus.
»Also, ich hab nie mit Pillen gedealt. Die gab’s bei uns im Block nicht. Das war Stoff für Baia Nerva, für die Diskotheken, wie Koks, aber das Geschäft haben andere gemacht. Ein Freund hat mir aber gelernt, wie man Hitler Speed herstellt, davon hab ich dir doch neulich erzählt. Aber ich hab dir ja gesagt, das machten wir hauptsächlich für die Hunde. Für die Kämpfe. Und wie lang hat der gekriegt, der Typ?«
»Vier Jahre, weil er einem Kollegen die Nase gebrochen hat und deshalb auch wegen Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt dran war. Aber der bleibt zweieinhalb, höchstens drei Jahre drin.«
»Und du bist schuld dran.«
»Auch wir müssen unsere Arbeit tun.«
»Dann bist du Polizistin, um eine Arbeit zu haben. Wie alle.«
»Was soll das heißen? Ich hätte mir auch was anderes aussuchen können.«
(In der Reihenfolge, wie sich mir die Jobs geboten haben: Supermarktkassiererin, drei Monate Sekretärin in einer Fabrik für Profile, Schwarzarbeit als Übersetzerin für technische Handbücher.)
»Hast du keine Angst, dass der Typ vielleicht nach dir sucht, wenn er rauskommt?«
»Nein, das glaube ich nicht. Der ist kein typischer Krimineller
…« (Ihm in die Augen zu sehen, würde bedeuten, ›wie du‹ hinzuzufügen.) »Ordentliche Familie, Vater Unternehmer und Mutter Psychologin. Er ist DJ und ziemlich bekannt in seinen Kreisen. Ab und zu schickt er mir aus dem Gefängnis eine CD, die er gemacht hat. Techno, weißt du?«
»Kann ich nicht ab.«
»Ich schon. Hilft mir manchmal. Lässt mich alles vergessen.«
»Was alles?«
»Alles, was ich vergessen will.«
»Zum Beispiel?«
Ich zucke mit den Schultern und streife ihn mit einem Blick. (Was heißt: Was geht dich das an?)
Er lässt das Eis schmelzen und vermischt es mit dem Löffelchen. Hundertmal, in Gedanken versunken, mit gleichbleibender Geschwindigkeit.
»Ich hab wirklich Lust, heute Abend wegzugehen. Frag doch mal, wo ein bisschen was los ist.«
»Hör auf damit.«
»Wo ist das Problem?«
»Das Problem? Dass du hier nicht im Urlaub bist, das ist das Problem.«
»Was soll denn der Scheiß? Ein Bier und ein paar Leute, Musik. Techno geht auch. Seit drei Tagen haben wir einen Friedhof gegenüber. Ich fühle mich elend, verdammt, als wär ich tot.«
(Wem sagst du das?) Vor unserem Fenster kommt die blonde Frau mit dem alten Mann im Rollstuhl vorbei. Sie erkennt uns und grüßt. Es sieht so aus, als schöbe sie nur eine karierte Decke spazieren, auf der ein blauer Hut liegt.
»Sei bitte höflich.«
»Ciao, ciao, Hitler Speed«, murmelt Cocíss und winkt.
»Hitler Speed, genau«, antworte ich.
Die blonde Frau heißt Elke Baumann. Und der hinfällige Körper, den sie durchs Dorf fährt, ist ihr Vater Dieter. Er ist
achtzig Jahre alt, und sein Bruder liegt unter einem Grabstein aus Granit, dort auf dem Platz. Sie waren im selben Zug in Stalingrad, beide noch keine achtzehn Jahre alt. Als Elke Baumann mir das gestern Abend erzählte, zeigte sie immer wieder auf Cocíss, um mir zu verstehen zu geben, dass ihr Vater ein Junge wie er war, mehr oder weniger im gleichen Alter. Um sie in die Schlacht gegen die Russen zu schicken, stopften sie die Soldaten so voll mit Methamphetaminen, dass viele von ihnen sich gegenseitig oder selbst erschossen, weil sie sich in Krämpfen wanden und von
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