Camorrista
Schlamm feststeckt. Cocíss wiederholt seine Begriffe, durchwühlt eine Schublade mit Wörtern, die zu klein und immer in Unordnung ist. Er erzählt mir, dass er nachts wenig schläft und es ihm passiert, dass er sich viele Gedanken macht, sich fragt, nach wie vielen Jahren er nach Hause zurückkehren kann, ohne noch Angst haben zu müssen. Da ich ihm nicht antworte, fragt er mich, was ich denn mache, wenn die Geschichte zu Ende ist.
»Meine Arbeit. Das hoffe ich wenigstens.«
»Meinst du nicht, dass du mir helfen könntest?«
»Ich? Nein, ich glaube nicht«, antworte ich ihm. Knapp und ehrlich.
»Und warum nicht?«
»Weil ich glaube, das wäre gefährlich. Auch nur uns wiederzusehen. Für uns beide.«
»Stell dir mal vor, dass ich in zehn Jahren so weit bin, dass ich eine Familie habe, und alles ist geregelt. Und auch Kinder.«
»Ja.«
»Kommst du mich dann nicht besuchen?« Er lächelt.
»In zehn Jahren? Vielleicht ja.«
»Wer weiß, wo ich dann bin. Ich muss jetzt einen Platz finden, wo ich neu anfangen kann, allein, bei null. Ich bin weit weg von allen. Nicht mal meine Mutter kann ich wiedersehen. Nicht mal meinen Bruder.«
Ich bin kurz davor, ihm zu sagen, dass er sich in genau der gleichen Situation befindet wie die Eltern von Nunzia und Caterina. Und weitere dreißig. Oder vierzig. Die Apriltoten, die auf der Straße erschossen wurden und die nicht wiederauferstehen können.
Aber ich behalte alles für mich und lasse einen anderen Film ablaufen. Vielleicht leugnet Cocíss, um zu verdrängen, was er getan hat. Er leugnet, weil er begriffen hat, weil er weiß, dass von diesem Bürgersteig noch mehr Blut fließen kann, eine Blutwelle, die ihn das ganze Leben verfolgen wird, länger als zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre. Er leugnet, um nicht bereuen zu müssen, oder weil Bereuen sowieso unmöglich wäre. (Viele wie er leben nicht lange genug, um wirklich zu bereuen, doch das ist, wie immer, Philosophie.)
Drei Abende hintereinander gehen wir zum Essen in Lauras Kneipe an der Ecke des Platzes. Der Tisch am Fenster ist inzwischen so gut wie reserviert. Die Wirtin ist eine gutaussehende und hochgewachsene Frau mit dunklem Haar, die, wenn sie die Kerzen anzündet, ehrlich gesagt mehr mich als Cocíss anlächelt. Er schlingt alles schnell in sich hinein und leert mindestens zwei Bier, lässt kaum ein bisschen Schaum auf dem Grund übrig.
Wenn wir ausgehen, ist der Abend blau, doch in den engen Straßen liegt schon ein salziger Nebel, der alles feucht werden lässt. Sein Sweatshirt, meine Haare, die Blumen auf den Balkonen, die Fenster der erleuchteten kleinen Wohnzimmer und die glänzenden Buckel des Kopfsteinpflasters.
Eines Abends bleibt Cocíss vor dem Friedhof auf dem Platz stehen. Eine blonde Frau um die fünfzig schiebt einen Rollstuhl zwischen den Grabsteinen durch. Ein alter Mann sitzt
darin, zusammengekrümmt, der schiefe Hals schaut aus einer karierten Decke hervor, der Mund ist nur noch eine runzlige Öffnung, die Luft ansaugt und aus der Speichel tropft.
Cocíss wendet sich zur Seite, zündet sich eine Zigarette an und fragt mich, ob der Apostroph, über den wir zwei Stunden ergebnislos geredet haben, nicht ein bisschen wie ein Grab ist. Zuerst kapiere ich nicht.
»Er steht an der Stelle von einem, den du eliminiert hast, den es nicht mehr gibt«, erklärt er.
Das ist das Beispiel, nach dem ich den ganzen Tag gesucht habe.
»Ganz genau so ist es. Bravo.«
Drei Tage lang tun wir die gleichen Dinge, mit wenigen Änderungen. Wir gehen zum selben Bäcker, grüßen dieselben Nachbarn, Herrn Fischer in seinen Trekkingschuhen und seine Frau mit den Leggings. Wir bestellen das gleiche Abendessen. Fischsuppe für mich und Schweinekotelett mit Kartoffeln für ihn. Eis für ihn, Himbeerkuchen für mich.
»Du stehst aber echt auf Himbeeren, oder?«, bemerkt er.
»Ja, sehr.« (Wenn es nicht wegen der Blasenentzündung wäre, vielleicht weniger.)
Cocíss führt zwei Telefongespräche am Tag, immer gegen eins und ungefähr um sieben. Ohne dass ich ihn irgendwas frage, schüttelt er den Kopf: noch keine Neuigkeit. Unser Mann wird in letzter Sekunde entscheiden, ob er ins Flugzeug nach Kopenhagen oder nach Hamburg steigt. Eines Nachmittags, als Cocíss sich auf der Couch ausruht, setze ich mich auf den Rasen der Fischers und lasse einen Film ablaufen: D’Intrò benachrichtigen, sich von den spanischen Kollegen die Passagierliste dieser beiden Flüge geben lassen. Nehmen wir mal an, das ist
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