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Camorrista

Titel: Camorrista Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giampaolo Simi
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schrecklichen Wahnvorstellungen überfallen wurden.
    Dieter Baumann hat schon als junger Mann seine Sprachfähigkeit verloren. Seit fünfundzwanzig Jahren kann er nicht mehr laufen, seit zehn Jahren erkennt er niemanden mehr, und seine einzige autonome Funktion ist die Atmung. Er ist höchstens in der Lage, mechanisch zu schlucken, wenn er in der Kehle etwas wahrnimmt, das den Durchgang der Luft behindert, auf diese Art kann er sich wenigstens ernähren.
    »Und so haben wir entdeckt, woher der Name Hitler Speed kommt.« Mir scheint es richtig, auf den Zufall aufmerksam zu machen.
    »So ein Zeug gibt man den Hunden. Ich hab das nie genommen, das hab ich dir gesagt. Ich gebe auf mich acht«, sagt er schließlich, und ich spüre eine Art von Traurigkeit, als hinge mir eine bleierne Kette am Hals.
    »Also gut, dann lass uns ausgehen.«
     
    Er rasiert sich, zieht das rosa Hemd über sein schwarzes prolliges Tanktop. Er bleibt eine Ewigkeit im Bad, deodoriert sich und schmiert sich Gel in die Haare.
    In der Zwischenzeit probiere ich an, was wir zusammen gekauft haben. Die weiße Hose ohne Gesäßtaschen, die taillierte violette Jacke, die ich statt einer geschmacklosen Jacke mit glänzendem Revers und Rückengürtel, die Cocíss so wahnsinnig gefiel, genommen habe.

    Wir nehmen das Auto und ziehen durch ein paar Lokale, eine Bierkneipe mit Großbildschirmen für Fußballspiele und ein Disco-Pub, wo zwei junge Kolumbianer die revolución del corazón oder irgendwas Ähnliches rappen. Cocíss »gehen sie auf die Eier«, er will in eine richtige Diskothek, und wir landen in einer, wo die Leute abgezählt reingelassen werden. Die Türsteher sind typische Ex-Ringer oder Ex-Bodyguards, Bulgaren oder Polen, könnte ich wetten. Sie drücken uns einen Stempel auf den Handrücken, und wir schieben uns durch einen Säulengang aus gelben Neonröhren. Die Tanzfläche ist so groß wie ein Tennisplatz und wird von einer Kuppel aus engen Aufbauten, Treppen und blau fluoreszierenden Balustraden überragt. Auf der obersten Plattform tanzt ein halb nacktes Mädchen. Sie trägt einen Cowboyhut und spuckt Feuer, wie diese Gaukler, die man noch bis vor ein paar Jahren auf den Straßen gesehen hat. Cocíss kontrolliert in einem ovalen Spiegel sein Aussehen: Heute Abend trägt er wieder seine dunkle Pilotenbrille. Er stellt sich an, um was zu trinken zu holen, besieht sich die Mädchen, dreht sich aber immer mal wieder zu mir um, wie um sich zu versichern, dass ich noch da bin.
    Ich setze mich auf einen Hocker vor eine Bildschirmwand mit einem blauen Wasserfall. Ich finde diese Disco furchtbar und fühle mich scheiße, das lässt sich nicht übersehen.
    Ich habe Angst. Übermorgen ( Dann ist es jetzt soweit , hat Cocíss gesagt) kommt auch mein Stalingrad. Leben oder sterben. Die feindlichen Linien überschreiten und dann zurück in einen sicheren Schützengraben, vielleicht in die Etappe. In ein Büro, auf einen ruhigen Posten. Vielleicht in Rom, warum nicht.
    Bleibt die Tatsache, dass ich mich scheiße fühle und Angst habe.
    Und ich kann nichts dagegen tun.
    Also muss ich irgendetwas tun.

    Cocíss kommt mit zwei Margaritas von der Schlange an der Bar zurück. Er setzt sich neben mich, und wir sehen uns ein wenig die Leute an.
    Ich trinke schnell, das Eis bleibt mir an den Lippen hängen. Ich gehe noch zwei holen, und bei der Rückkehr unterhält sich Cocíss in Zeichensprache mit zwei Mädchen. Eine trägt eine karottenfarbene Fransenperücke, die andere einen weißen Minirock mit Lederstiefeln bis über die Knie, ich würde sagen: peinlich.
    Der DJ legt ein elektronisches Stück auf. Mir kommt es so vor, als hätte ich es Anfang der Achtziger einen ganzen Winter lang aus dem Zimmer meines Bruders gehört. Ich erinnere mich nicht, wie die Gruppe hieß. Aber es gefiel mir. Ich nehme einen guten Schluck, lasse Cocíss die Gläser da und gehe tanzen.
     
    Eine Welle elektrischen Bluts.
    Das brauche ich, sonst nichts. Ich schließe die Augen und bin im Zimmer meines Bruders, halte seinen Walkman in den Händen. Glücklich. »Wenn du ihn mir nicht leihst, sage ich Mama, dass du mit Francesca im Haus bist, wenn sie nicht da sind …« Ich kehre zurück in meine Welt der Puppen aus Plastik, Töpfchen aus Plastik, kleinen Halsbändern und Armbändern aus Plastik. Ich tanzte und versuchte mich dabei an die Videos im Fernsehen zu erinnern. Ich tanzte in meinem Zimmer, auf dem Bett, und wollte nicht, dass mich irgendjemand sah. Bevor ich nicht gut war.

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