Camorrista
Arbeit und Entwicklung im Süden fordert, und einen Staatssekretär, der sie ihm verspricht. Stoße auf Nunzias Vater, der vielleicht nicht mal so alt ist wie ich und sich mehr als alles andere dafür zu schämen scheint, dass ihm das passiert, dass seine achtjährige Tochter ermordet worden ist. Caterinas Mutter hat ein verquollenes Gesicht, eine rosa Klammer aus Plastik in den Haaren mit Strähnchen, ein Taschentuch, das ihr aus dem Ärmel schaut. Sie spricht das Wort »Krieg« aus, der Rest ist ein unverständliches Gemurmel, auf das man überflüssigerweise weiter die Kamera hält.
Die Aprilfehde fordert auch im Mai weitere Tote. Jetzt sind wir bei einunddreißig. Trotz der Operation Antigone hat es zwischen den Scurante und den Incantalupo nur einen kurzen Waffenstillstand gegeben.
Auch ich hier, auf meinem noch immer faltenlosen Bettlaken, warte auf meinen Waffenstillstand.
Ich werde wach und liege immer noch auf dem Bett. Es ist still. Ich kann mich nicht erinnern, den Fernseher ausgemacht zu haben, doch auch das kleine rote Auge des Standby ist verschwunden. Ich drehe mich zum Nachttisch, taste und drücke, aber der Radiowecker reagiert ebenso wenig.
Ich nehme meine Uhr und trete ans Fenster.
Die ganze Gegend ist in einem Blackout versunken. Ein bisschen wie ich, zumindest in den wenigen Stunden meines Eintauchens in einen tiefen Schlaf, aus dem ich fröstelnd erwacht bin.
Über den Dächern kann ich das erste Morgenlicht jenseits der niedrigen Hügel erkennen. Es ist kurz nach fünf, und ich weiß, dass ich nicht wieder einschlafen werde.
Ich gehe ins Wohnzimmer, um nach Kerzen zu suchen, und finde vier in Zellophan verpackte, die einen perfekten Chillout garantieren. Federico hat sie mir zu Weihnachten geschickt, zusammen mit einer seiner CDs. Im Licht des Streichholzes lese ich noch einmal sein Kärtchen mit guten Wünschen: »Zünde sie an und brenne mit mir.«
Ich brenne nicht mit ihm, doch er wird sich freuen zu erfahren, dass sie zu etwas gut waren.
Ich zünde zwei davon an und bemerke, dass ich vergessen habe, die Pistole in den Safe zurückzulegen. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, werfe mir eine Decke über, nehme das Magazin heraus, zähle die Kugeln, auch die im Reservemagazin, und mache den Safe auf.
Die Pappschachtel mit den blauen Kornblumen ist da, wie immer.
Während ich darauf warte, dass der Strom zurückkommt, um zu duschen und mir einen Kaffee zu machen, zünde ich auch die anderen Kerzen an, kauere mich auf die Couch und öffne den Knoten der Schnur (warum gerade heute Nacht, nach so vielen Jahren?).
Ich beginne die letzten Seiten meiner Arbeit durchzublättern, sie sind mir noch am nächsten, jedenfalls zeitlich gesehen. Es gibt noch viel Rohmaterial. Notizen, wütende Streichungen,
Entwürfe und Zusammenfassungen, die mir heute nebulös vorkommen. Das Wort »Gnade« ist in ein Oval eingeschlossen und von Pfeilen umgeben. Da ich mich mit der Widerlegung der Häresie der Pelagianer beschäftigt habe, habe ich auf einer Seite die andere große Polemik des Augustinus, die gegen die Manichäer, zusammengefasst. Ich erinnere mich, dass Augustinus nicht der Auffassung war, Gut und Böse seien zwei verschiedene Wesenheiten, doch ich weiß den Grund dafür nicht mehr. Eigentlich sieht nichts davon nach mir aus, außer der Handschrift: meine Angewohnheit, Schreibschrift und Blockschrift zu mischen.
Also: Alles, was wir tun, ist für unser Seelenheil notwendig, doch nicht ausreichend. Unser freier Wille kann den Willen Gottes nicht konditionieren. Alles, was wir tun können, ist, dem Willen Gottes zu entsprechen, und das heißt, in uns die Wahrheit zu entdecken, die natürliche Neigung zum Guten. Alles sehr schön, sicher, aber jetzt möchte ich wirklich gern wissen, warum man nicht das Gute vom Bösen unterscheiden kann. Ich möchte wirklich wissen, ob eine Bestie sich ändern und ob ich es in ihren Augen lesen kann, jetzt, wo sie endlich den Blick gesenkt hat, um mich zu bitten, ihr zu glauben. Stattdessen lese ich Namen, die mir nichts mehr sagen, Definitionen, die blasse Schatten hinter sich herziehen.
Ich werde meine Arbeit niemals zu Ende schreiben. Und Philosophie bringt gar nichts. Dagegen bringt es etwas, dass ich morgen mit D’Intrò spreche und ihn überzeuge. Es bringt etwas, dass wir Saro Incantalupo fassen, oder ich werde für das, was ich heute Abend getan habe, teuer bezahlen.
Ich halte den Stapel Papier näher an die Kerze. Die Flamme zieht sich zurück
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