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Camorrista

Titel: Camorrista Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giampaolo Simi
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Mezzanotte.«
    »Dann müssen wir wieder so tun, als wärst du meine Schwester?«
    Ich schweige wie eine Idiotin, als müsste ich darüber nachdenken.

    »Wir müssen bei der Rolle bleiben. Ohne zu übertreiben«, sage ich.
     
    Beim Start wird er unruhig und macht immer wieder seinen Sicherheitsgurt auf. Der Steward hat ihn sofort im Blick und kommt ein paar Mal zu uns. Cocíss will zur Toilette, er ist bleich und schwitzt.
    »Das geht jetzt nicht«, erkläre ich ihm. Ich schnalle ihn wieder an, und er umfasst meine Handgelenke.
    »Dieses Flugzeug ist Schrott, siehst du das nicht?«, stößt er aus. »Alles wackelt.«
    »Das sind die Motoren.«
    »Es ist klein.«
    Die Sitznachbarn beginnen uns anzuschauen.
    »Lass mich sofort los und beruhige dich.«
    Er trampelt mit den Füßen unter dem Sitz seines Vordermanns herum, der sich genervt umdreht.
    »Was guckst du?«, fragt er ihn.
    Der Steward kommt wieder, und diesmal auch eine Stewardess. Cocíss setzt sich steif hin, ich versuche alle zu beruhigen und entschuldige mich bei seinem Vordermann, auch wenn Cocíss brummt, dass ich »keinen Grund habe, mich zu entschuldigen«.
    Das Flugzeug bleibt stehen, wir sind auf der Startbahn, und er presst sich gegen die Rückenlehne.
    »Was haben wir vorhin gesagt?«
    »Dass du meine Schwester bist«, antwortet er, schließt die Augen und drückt meine Hand. Kalte, feuchte Finger.
    Die Stewardess lächelt und ich erwidere das Lächeln.
    »Alles in Ordnung, danke.«
     
    Flughäfen sind mehr oder weniger alle wie Dekompressionskammern mit konstanter Temperatur. Neutrale Zonen, die den plötzlichen Sprung einer Reise abschwächen, die im Grunde nur eine Art primitiver Teletransport ist.
    »Ich dachte, in Deutschland wäre es kälter«, sagt Cocíss.

    Ich gebe ihm ein Zeichen, bei dem gelben Schild mit den Buchstaben EU durchzugehen.
    »Eine umgedrehte 3 und dann das U. Zahlen kannst du doch lesen, oder?«
    Er bejaht und wiederholt die beiden Buchstaben, zuerst langsam, dann schnell.
    Ich hätte erwartet, dass er in die Schaufenster sieht, das riesige Plakat mit dem gerade angesagten Fußballspieler, der so heldenhaft wirkt, doch stattdessen hält er den Blick gesenkt, auf seine Füße, auf den weißen, glänzenden Fußboden. Er sieht aus, als ginge er über einen Milchsee.
    Wir durchqueren die Halle, und er schaut sich allzu aufmerksam um. Er hat zwei Polizisten bemerkt und ist gleich auf der Hut. Konditionierter Reflex. Eine dicke Frau in Bermudas läuft an uns vorbei. Dann ein Fünfzigjähriger mit einem narbigen Gesicht, mitgenommen sieht er aus, wie die schwarze Krawatte, die er zu einem grauen Hemd trägt. Wieder in der Menge. Wieder geschützt.
    Ich sehe mir die Urlaubs- und die Abschiedsgesichter an, wie sie geprägt sind von kleinen persönlichen Qualen, Schläfrigkeit und Ungeduld.
    Cocíss kommt mir angespannter als beim Abflug vor.
    »Geh ein bisschen schneller und nicht so verkrampft in den Schultern. Hier musst du vor niemandem Angst haben«, sage ich zu ihm. Wir sind fast am Ausgang unseres Terminals. Vor uns geht ein junger Vater, der einen Gepäckwagen mit drei roten Koffern und zwei blonden Kindern schiebt.
    Außerhalb dieser Kathedrale aus Stahl und Glas scheint eine richtige Sonne, der Himmel ist wolkenlos, türkisblau, die Luft ein wenig frisch, doch vielleicht nur im Vergleich zu dem Treibhauseffekt in der Halle.
    »Was ist denn hier passiert?«
    »Warum?«
    »Ist einer gestorben?«
    »Wie kommst du denn darauf?«
    »Mir kommt alles so still vor.«

    Der Abend ist lau, wir essen in einem Biergarten, auf Bänken unter hellblauen Fahnen mit einem Löwen darauf.
    Wir haben zwei nebeneinander liegende Einzelzimmer im dritten Stock bekommen. Ein Hotel für Vertreter: blauer Teppichboden und schlichte weiße Vorhänge, kein besonderer Luxus. Doch endlich eine Dusche, vier Stunden Schlaf, ein Anruf zu Hause, der mich in die Nähe von so etwas wie Normalität zurückversetzt. Kostbare zehn Minuten, die in Wirklichkeit etwas Außergewöhnliches geworden sind.
    Meiner Mutter habe ich gesagt, dass ich im Ausland bin. Sie hätten mich in die Begleitmannschaft eines Abgeordneten gesteckt, weil es manchen Abgeordneten vom Gesetz her zusteht. Sie hat gereizt geantwortet, dass ein solcher Luxus für die Abgeordneten von uns allen bezahlt wird. Über meinen Vater hat sie nichts weiter erzählt. Aber ich habe schon verstanden, dass es immer schlechter geht, und nicht den Mut gehabt, ihr zu sagen, dass ich nicht weiß, wann ich

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