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Camorrista

Titel: Camorrista Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giampaolo Simi
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seines entzündeten Zahnfleischs von Blut umrandet sind. Der Kampfhund, der nicht einmal lesen kann, das Alphatier, das vom Rudel gehetzt wird, sagt mir, dass es für uns keinen Ausweg gibt, dass wir keine Verbündeten mehr haben, und fragt mich, was wir tun sollen. Wohin wir gehen können.
    Eine Idee habe ich wenigstens.
    »Wir nehmen ein Flugzeug.«
    »Nach Rom?«
    »Nein. Zurück nach Pisa. Oder nach Florenz.«
    »Wir müssen nach Deutschland.«
    »Da kommen wir auch hin. Aber nicht gleich nach Hamburg. Es könnte sein, dass sie uns jetzt gerade da erwarten.«
    Es ist nicht unbedingt die beste Idee.

    »Also, wohin jetzt?«
    »Wichtig ist, dass wir das erste Flugzeug raus aus Italien nehmen.«
    Aber es ist die einzige.
     
    Wir brauchen eine Stunde nach Pisa. Wir sagen kein Wort, warmer Wind weht durch die Fenster, der Blütenstaub über den Feldern bringt uns beide zum Niesen. Mit dem Zeigefinger auf der Sendertaste lässt Cocíss auf der Suche nach Nachrichten die Stationen durchlaufen.
    Es heißt, dass es für den Mord an den beiden falschen Polizisten keine Zeugen gibt. Außerdem hatten sie sich eine abgelegene Stelle ausgesucht. Nach dieser guten Nachricht parke ich das Auto in einer wenig befahrenen Straße, und wir machen uns mit dem Gepäck auf dem Rücken auf den Weg zum Flughafen. Wir sehen aus wie zwei Studenten, die zu einer Studienreise aufbrechen (hoffe ich wenigstens).
    Auf dem Flughafen spüre ich, dass sich die Spannung endlich ein wenig löst. Mitten in einer Menschenmenge ist es leichter, sich anonym und damit beschützt zu fühlen, doch wenn ich sie wäre, würde ich uns eigentlich gerade hier suchen. In der Maschine nach München, die in drei Stunden geht, sind noch zwei Plätze frei. Ich zögere keinen Moment.
    Wir verlieren uns gegenseitig nicht einmal aus den Augen, als wir zur Toilette gehen. Er bleibt länger drin als ich, und als er herauskommt, hat er einen hochroten Kopf, und ich frage ihn, ob alles in Ordnung ist.
    »Es ist heiß, und ich habe Hunger«, murmelt er und schiebt sich die Brille von der Stirn auf die Nase. Ich weiß nicht, ob nur mir das so vorkommt, aber man sieht, dass sie nicht echt ist. Oder liegt es an seinem Gesicht eines in Ungnade gefallenen Schauspielers? Es ist jedenfalls wirklich alles andere als ein Brillengesicht.
    Er verschlingt zwei Schinkenbrötchen und ein Stück Kuchen. Mit einer großen Cola. Ich habe auch Hunger, doch sobald ich mein Valdostana-Beefsteak in mich hineinstopfe,
spüre ich, wie alles zu brennen anfängt, von der Kehle bis zum Magen. Ich sehe mir die Gesichter an den Nachbartischen an: drei japanische Mädchen, ein kräftiger Typ mit einem Känguru auf dem T-Shirt, ein Paar älterer Zwillinge mit einem karierten Rollkoffer. Ich lasse mir ein großes Glas kalte Milch geben, und Cocíss sieht mich komisch an.
    »Noch nie geflogen?«, frage ich.
    »Nie.«
    »Im Ernst nicht?
    »Nein. Und du, noch nie auf einen geschossen?«
    »Nie. Nur einmal, da war ich nah dran.«
    »Also, was willst du?«
    »Nichts, ich wollte nur verstehen, wie du dich fühlst.«
    »Ich fühle mich wie einer, der tot sein könnte.«
    Ich lasse die Hälfte meines Valdostana-Dreiecks liegen, und er schnappt es sich gleich.
    »Wenn du lesen könntest, wären wir jetzt tot. Beide.«
    Ich erwarte nicht, dass er stolz darauf ist. Und tatsächlich kaut er auf seine unmanierliche Art weiter. Auch ich kenne ihn inzwischen.
    »Was meinst du damit?«
    Ich erkläre ihm, dass er, statt die Buchstaben zu lesen, das ganze Wort angeschaut hat, wie ein Wappen, als wollte er ein Gesicht erkennen. Und daher hat er gewusst, dass es keine echten Polizisten waren.
    »Aber jetzt musst du es mir lernen.«
    »Was?«
    »Lesen und schreiben.«
    Ich möchte ihn fragen, wie es möglich ist, achtzehn Jahre alt zu werden, ohne lesen und schreiben zu können. Aber ich spüre, dass es ein heikles Thema ist, und lasse lieber noch ein wenig Zeit vergehen, trinke mein Glas Milch aus.
    »Ich bin nämlich nicht behindert, okay? Ich habe schon gelernt, in der Schule. Es hat mir nur Mühe gemacht, ich war nicht richtig dabei, manchmal bin ich hingegangen, manchmal hatte ich keine Lust, oder ich hab lieber ein bisschen
Chaos veranstaltet. Aber Wörter habe ich gelernt. Und die anderen haben mir bei den Fehlern, die ich gemacht hab, geholfen. Die hatten Angst, dass ich ihnen sonst draußen eine reinhaue. Ich glaube, die Lehrerin hat das vielleicht gemerkt, aber vielleicht war sie schon froh, wenn einer aus dem

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