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Camorrista

Titel: Camorrista Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giampaolo Simi
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Der ganze Rest, Führerschein, Arbeitspapiere, wird eines Tages mit dem Wechsel der Personalien kommen, was eine größere Sache ist. Diesen Wechsel wird man am besten durchführen, wenn alles gut gelaufen und vorbei ist. Die ausführliche Erklärung langweilt ihn, und außerdem ist er irgendwie beleidigt, dass er nicht fahren darf.
    »Aber entschuldige mal, du hast doch überhaupt keinen Führerschein.«
    »Nein«, sagt er treuherzig.
    »Ja, und was willst du dann?«
    »Was spielt das für eine Rolle? Ich kann doch fahren.«
     
    Im Zug ist er bis mindestens Würzburg schlecht gelaunt. Er sieht aus dem Fenster, döst und spielt mit dem Handy. Von seinem Platz steht er nur auf, um zur Toilette zu gehen.
    Eine wellige Landschaft zieht an uns vorbei, hin und wieder drängen sich die Hügel zusammen, werden die Wälder
dichter, dunkler, und der Himmel wird blass. Wenn das Panorama sich wieder öffnet, taucht in der Ferne immer ein spitzer Kirchturm auf, verloren inmitten der Felder, und irgendwo weidet eine Herde.
    Richtung Norden wird der Horizont weiter und flacher. Die Ziegelhäuser wirken strenger, haben eine Farbe zwischen Braunkohle und dunklem Rost. Jede Garage, jeder Geräteschuppen, jeder unbedeutende Quadratmeter Kies ist mit gelben, violetten und weißen Blumen geschmückt. Aus den steilen Dächern schauen Fenster hervor: bestickte Vorhänge, aber keine Fenster- oder Rollläden. Irgendwann hält Cocíss den Blick auf eine Straße geheftet, die neben den Schienen verläuft. Das einzige Auto, das darauf fährt, scheint auf dem Asphalt festzukleben und in die Ferne gesogen zu werden.
    »Wohnt denn hier nirgendwo einer?«, fragt er mich. Es ist das erste Mal seit unserer Abfahrt, dass er das Wort an mich richtet.
    »Doch, klar.«
    »Und wo sind sie dann alle?«
    Ich weiß nicht recht, was antworten. Mir fällt ein, was D’Intrò zu mir gesagt hat.
    »Bei euch, in eurem Transatlantico , hat man auch das Gefühl, dass keiner da ist. Aber im ganzen Viertel seid ihr fast hunderttausend Leute.«
    »Was hat das damit zu tun? Wenn ihr kommt, schließen sich alle ein. Und was weißt du schon vom Transatlantico ?«
    »Ich bin da gewesen.«
    »Wann das denn?«
    »Als ich bei D’Intrò war, um mit ihm zu sprechen. Er hat mich auch mit in deine Basis genommen.«
    Er murmelt irgendwas gegen D’Intrò, das sich wie eine Todesdrohung anhört. Ein paar Sekunden lang verkrampft er sich, als hätte er ein Messer in den Bauch bekommen. Ich stehe kurz auf, nehme ein Taschentuch aus der Jacke, doch in Wirklichkeit kontrolliere ich mit einem Blick den Wagen. Als
ich mich wieder hinsetze, wendet er sich mit eiserner Miene an mich.
    »Wer hat ihm gesagt, wo meine Basis war?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Er ist wirklich ein Scheißdreckskerl , er durfte da nicht hingehen.«
    »Wenn du beschließt zu kooperieren, musst du alles übergeben, was …«
    »Ich sage dir, er ist ein Scheißkerl.«
    »Ja, aber sprich leiser.«
    »Er wollte, dass alle wissen, dass ihr mich geschnappt habt. Er braucht mich nicht mehr.«
    »Das stimmt nicht«, entgegne ich, doch ohne Überzeugung. Er versteht, zum ersten Mal wechseln wir Blicke, aus denen die gleiche Angst und die gleiche Müdigkeit sprechen. Und ohne eine Silbe zu sagen.
    »Dann hast du auch meinen Drachen gesehen.«
    »Ja.«
    »Im Ernst? Was ist mit ihm passiert? Wo war er?«
    »Sie haben ihn in den Zoo gebracht«, beeile ich mich, ihm zu versichern, dann beuge ich mich über den Nachbarsitz und sehe das erste Schild, das den Bahnhof Fulda ankündigt.
    »Wann kommen wir an?«
    »Wir sind auf halber Strecke. Mehr oder weniger.«
    Er stößt geräuschvoll die Luft aus.
    »Üben wir ein bisschen. Lies mir mal vor, was auf dem Schild steht, los.«
    »Geh mir nicht auf die Eier. Ich habe keine Lust.«
    »Los, es ist einfach. Fünf Buchstaben. Der erste ist ein F.«
    »Sei ruhig.«
    »Los, der zweite?«
    »Sie haben ihn getötet, nicht?«
    »Nein, sie haben ihn in den Zoo gebracht. Ich war dabei, als sie ihn weggebracht haben.«
    »Das ist nicht wahr.«

    »Ich schwör’s dir.«
    »Verarsch mich nicht.«
     
    Bis Kassel haben wir drei Wörter zusammen: seinen Namen, meinen Namen und »ciao«. Schließlich schafft er es, sie alle drei richtig zu schreiben, auch wenn ich merke, dass er sich weiterhin eher an das ganze Wort erinnert, als einen Klang mit einem Buchstaben zu verbinden. Die Wahrheit ist einfach, aber ich glaube nicht, dass ich sie ihm sagen kann. Cocíss ist Legastheniker, daran habe ich

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