Camorrista
inzwischen keinen Zweifel mehr. Er hätte ohne Hilfe niemals lesen und schreiben lernen können wie alle anderen.
In Kassel entdeckt er etwas.
»Was ist das für ein Buchstabe da, der erste?«
»Das ist ein K. Man spricht es wie ein C in ›casa‹ oder ›cuore‹.«
»Was redest du denn da für einen Scheiß …«, sagt er und lacht.
»So ist es aber«, versuche ich ihm gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Wofür sollen denn zwei Buchstaben für einen Laut gut sein?«
Ich habe darauf keine wirkliche Antwort. Er kann auf seine Art eigensinnig sein. Er ist fast paranoid und hat ständig Angst, dass ich ihm, wie er es nennt, »was Falsches lerne«. Er ist gezwungen, mir zu vertrauen, doch er will mir zeigen, dass er immer aufpasst. Ich lasse mir schnell etwas einfallen.
»Das K... ist härter. Ein taffer Buchstabe.«
»Was heißt das? Willst du mich verarschen?«
»Aber nein... schau mal. Das ist ein C, ja? Siehst du, wie rund es ist. Das K dagegen ist...«
»Sieht aus wie eine Spitze, die von irgendwo reinstößt. So wie ein Messer.«
Er kritzelt drei oder vier. Dann fragt er mich, ob er ein K an den Anfang seines Namens setzen kann, an die Stelle vom C.
»Wenn du willst.«
»Dann schreibe ich ihn noch mal mit K.«
Zweimal vergisst er das I, dann das zweite S.
»Warum braucht man zwei?«
»Weil es mit zwei S länger dauert, es ist wie ein Messerstich.«
Ich spiele es ihm sogar vor, er nickt und ist zufrieden. Er schenkt mir ein Lächeln, vielleicht sein erstes echtes, offenes, wehrloses Lächeln eines Achtzehnjährigen. Schade, dass ich es ihm mit der Geste eines Messerstichs entlockt habe.
»Du hast wirklich recht. Du lernst mir die Buchstaben echt gut.«
In Bremen bläst ein schneidender Wind, der von der Nordsee kommt und den schnellen Wolken mit trägen Stößen folgt. Für uns ist es, als würden wir auf Anfang März zurückgeworfen. Und außerdem sind wir müde und hungrig.
»Was für eine Drecksstadt«, beklagt sich Cocíss und wechselt seine Tasche von der einen auf die andere Schulter. Wir lassen den Bahnhofsplatz hinter uns, die Geschäfte sind schon alle geschlossen. Über die Straße fahren nur knallbunte Straßenbahnen und ein paar Radfahrer mit Leuchtbändern. Vor einer Dönerbude und einem asiatischen Schnellimbiss bleibt Cocíss stehen, wirft einen Blick hinein und rümpft die Nase, sodass ich ihm schließlich den freundlichen Rat geben muss, keinen Ärger zu machen.
Wir passieren eine Brücke. Die beiden Ufer des Kanals sind ein perfekter Park, wunderschön, man kann sich vorstellen, dass im Herbst wahrscheinlich alle halbe Stunde ein Angestellter kommt und die welken Blätter wegfegt. Cocíss bleibt stehen und sieht sich die Mühle an, die zwischen den Bäumen auftaucht.
»Da kann man essen.«
»Mag sein. Aber zuerst suchen wir uns eine Unterkunft, wo wir das Gepäck lassen können.«
Er stellt seine Tasche auf den Boden, streckt sich und nimmt das Handy.
»Halb acht. Ich muss einen Anruf machen.«
»Sieh zu, dass du einen präzisen Hinweis bekommst. Ich will mit klaren Vorstellungen nach Hamburg fahren.«
»Ich tue, was ich kann. Und du, rufst du nicht deinen Chef an?«
»Das ist nicht deine Sache.«
»Du traust diesem Scheißdreckskerl nicht mehr, was?«
»Ich traue ihm«, antworte ich. »Aber auch ich will unsere Abmachung respektieren.«
Ich lasse ihn in der Mitte der Brücke zurück und stelle mich vor das Schaufenster an der nächsten Ecke. Es ist eine Bank, doch sie hat einen schachbrettartigen Aushang mit Immobilienangeboten. Quadratische Blätter mit Foto, Beschreibung, Preis. Für mich ist das Fenster nützlich, weil ich Cocíss darin sehen und ihn im Auge behalten kann.
Cocíss hat sich übers Geländer gebeugt und tippt mit dem Daumen auf die Tasten. Dafür muss er nicht lesen können, es genügt, dass er ein Handymodell hat, das er gut kennt. Ansonsten ist es für ihn mehr als ausreichend, Zahlen und Symbole zu unterscheiden, um ein solches Gerät zu benutzen.
Die Preise der Häuser sind nicht so übertrieben wie in Italien. Sie haben fast alle zwei Stockwerke und einen kleinen Garten. Ich sehe, dass Cocíss angefangen hat zu sprechen. Ich wünschte, mir würde etwas einfallen, wie ich ihn hereinlegen und an diese Telefonnummer kommen könnte, aber er sagt, er hat sie nur im Kopf, hat sie nie irgendwo hingeschrieben oder gespeichert, und ich glaube, das stimmt (und wenn er es wäre, der mich hereinlegt?). Im Grunde kann er wer weiß wie
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