Camorrista
lange so weitermachen, aber ich nicht. Er hat nichts mehr zu verlieren, ich schon. Ich riskiere alles.
Ich bin nicht wie er. Doch jetzt stehe ich mit dem Rücken zur Wand. Wie er. Und leider mit ihm zusammen.
Cocíss gestikuliert, lehnt sich mit dem Rücken ans Geländer. Zwei alte Leute, die sich untergehakt haben, gehen an ihm vorbei. Sie machen kleine Schritte, in ihren leichten, vom Wind aufgebauschten Regenmänteln.
Dann klappt Cocíss das Handy zu, nimmt den Akku raus und wirft die Karte in den Kanal.
Mir ist verdammt kalt. Und ich fühle mich weit weg, so weit weg wie diese melancholische Sonne. (Scheiße noch mal, wo bin ich bloß gelandet?) Die spitzen Dächer werfen lange Schatten auf die Fassaden ohne Balkone.
Wir finden zwei nebeneinander liegende Zimmer in einem großen Hotel in der Nähe des Flusses. Vier Sterne, Cocíss scheint ziemlich zufrieden. Wir sind in einem oberen Stockwerk mit Blick auf das ganze sattgrüne Ufer gegenüber. Man sieht Anlegestellen, kleine Häfen, ein paar Stege, Boote, die auf dem Trockenen liegen, und schmale Landzungen mit blassem Sand.
Wir gehen nicht in der Windmühle essen, sondern machen einen Spaziergang Richtung Zentrum. Auf den breiten, verlassenen Bürgersteigen ist uns der Wind immer ein kleines Stück voraus, wie eine Meute unsichtbarer Hunde. Wir nehmen den Weg, der unten am Fluss entlang führt, eine Art gepflasterte Promenade, gesäumt von Lokalen. Die Leute sitzen draußen unter Zeltdächern auf Bänken und trinken etwas. Sobald er unter Menschen kommt, scheint Cocíss aufzuleben (und auch ich fühle mich entspannter). Ab und zu schüttelt er sich, streckt sich in den Schultern und zieht die Nase hoch.
Wir gehen in ein Lokal, das er aussucht. Ethno-minimalistischer Stil, im Hintergrund Bächleinrauschen und New-Age-Flöten. Weiße Stühle mit hohen Rückenlehnen, ein bisschen retro, aber nett. Den Tisch suche allerdings ich aus. Blick auf die Tür, nicht zu weit vom Eingang. Die voll verspiegelte Rückwand bietet mir einen ausgezeichneten Überblick über den ganzen Raum. Der größte Teil der Gäste besteht aus Paaren oder höchstens zwei Paaren zusammen. Keine Familien, keine Freundesgruppen.
Die orangefarbenen Wände sind mit Opernplakaten und alten Reklametafeln zugehängt. Ein Mädchen kommt an unseren Tisch, mit Sicherheit keine Deutsche. Vom Aussehen
und von ihrer Art zu sprechen nicht. Zum ersten Mal kommt Cocíss mit einem Wort heraus: » Italiani .«
Das Mädchen antwortet, dass sie Spanierin ist. Aber es gibt auch einen italienischen Kollegen, und sie zeigt ihn uns.
Das Ganze begeistert mich nicht gerade. Ich gebe Cocíss ein Zeichen, es nicht zu übertreiben, aber es ist schon zu spät. Der Typ kommt gleich an unseren Tisch, er ist mehr oder weniger im gleichen Alter wie der Ex-Capozona und trägt fast peinliche Koteletten. Er stammt aus einem Ort in der Nähe von Campobasso.
Cocíss spielt den netten Kerl, ist redselig, der Kellner erklärt ihm die Speisekarte. Ich lasse es geschehen, bleibe aber weiter auf der Hut. Ich schaue hinter die Theke. Das Lokal ist größer, als es von außen schien. Es gibt einen oberen Stock und auch eine Art Keller.
Inzwischen hat Cocíss mich als seine Schwester vorgestellt, die studiert hat, die in der Welt herumgekommen ist und Sprachen kann, sogar Deutsch.
Aus der Art, wie er lächelt, dabei die Lippen fest an die Zähne zieht, kann ich ihn mir in seinem Zimmer vorstellen, auf Knien, die Nase wie ein Ameisenbär auf dem Nachtschränkchen. Er ist ein bisschen zu angestrengt, aber er hält die Rolle durch, ohne zu übertreiben.
Ich bestelle das Erstbeste, was mir einfällt, ein Filet mit grünem Pfeffer und Röstkartoffeln. Er lässt sich einen großen Salat mit geräucherten Hähnchenstreifen bringen, aber nur weil ich ihn davon überzeugt habe, auf italienische Gerichte besser zu verzichten.
Sobald der Kellner gegangen ist, zieht Cocíss die Ärmel seines Sweatshirts hoch, stützt die Ellbogen auf den Tisch und legt die Hände zusammen.
»Ein Hemd wäre heute Abend passender gewesen.«
Er gibt mir mit einem Grinsen recht.
»Morgen gehen wir eins kaufen. Wir machen eine kleine Runde durch die Geschäfte. Vielleicht hast du ja auch Lust, dir was zu kaufen.«
»Wir haben im Moment andere Sorgen.«
»Hör mal, du hast doch auch wirklich einen Bruder?«
»Warum?«
»Ich bin nur neugierig, das ist alles.«
»Nein.« Diesmal klappt das mit dem Lügen sofort. Er fährt sich mit dem Handrücken
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