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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Ausbeutung, keine Land- und Fabrikbesitzer mehr gibt, niemanden, der sich vor den Augen Ausgehungerter vollschlingt, wenn dies unmöglich sein wird, dann erst werden wir diese Maschine in den Winkel stellen. Dann wird es weder Staat noch Ausbeutung geben.» Solange es auf der Welt, nicht nur in einer umschriebenen Gesellschaft, einen Unterdrückten oder einen Besitzer gibt, wird der Staat also aufrechterhalten werden. Ebenso lange wird er gezwungen sein, sich zu vergrößern, um die Ungerechtigkeiten eine nach der andern zu besiegen, die Regierungen der Ungerechtigkeit, die hartnäckigen bürgerlichen Nationen, die Völker, die für ihre eigenen Interessen blind sind. Und wenn auf der endlich unterworfenen, von Gegnern gesäuberten Welt die letzte Ungerechtigkeit im Blut der Gerechten und Ungerechten ertränkt ist,dann wird der Staat, an die Grenze aller Macht gelangt, ein scheußlicher Götze, der die ganze Erde umfasst, sich im schweigenden Reich der Gerechtigkeit brav auflösen.
    Unter dem immerhin voraussehbaren Druck der feindlichen Imperialismen entsteht mit Lenin in Wirklichkeit der Imperialismus der Gerechtigkeit. Aber der Imperialismus, selbst der der Gerechtigkeit, hat kein anderes Ende als die Niederlage oder die Weltherrschaft. Bis dahin hat er kein anderes Mittel als die Ungerechtigkeit. Von nun an identifiziert sich die Doktrin endgültig mit der Prophetie. Zugunsten einer entfernten Gerechtigkeit legitimiert sie die Ungerechtigkeit während der ganzen Zeit der Geschichte; sie wird zu jener Vorspiegelung, die Lenin mehr als alles andere in der Welt verabscheute. Sie lässt das Unrecht, das Verbrechen und die Lüge hinnehmen durch die Verheißung des Wunders. Noch mehr Produktion und noch mehr Macht, ununterbrochene Arbeit, unaufhörliche Schmerzen, dauernder Krieg, und ein Augenblick wird kommen, da sich die allgemeine Knechtschaft im totalen Staat wunderbarerweise ins Gegenteil verkehren wird: in die freie Muße in einer universalen Republik. Die pseudorevolutionäre Mystifikation kann nun formuliert werden: Man muss jede Freiheit töten, um das Reich zu erobern, und das Reich wird eines Tages die Freiheit sein. Der Weg zur Einheit geht also durch die Totalität.

    Die Totalität und der Prozess

    Die Totalität ist in der Tat nichts anderes als der Traum der Einheit, den Gläubige und Rebellen gemeinsam haben, aber horizontal auf eine Erde ohne Gott projiziert. Auf jeden Wert verzichten heißt nun auf die Revolte verzichten, um das Reich und die Sklaverei anzunehmen. Die Kritik der formalenWerte konnte die Freiheit nicht auslassen. Ist einmal die Unmöglichkeit erkannt, allein aus der Revolte den freien Menschen zu schaffen, von dem die Romantiker träumten, wurde die Freiheit ebenfalls in die Bewegung der Geschichte einbezogen. Mit dem Dynamismus der Geschichte gleichgesetzt, kann sie erst dann sich ihrer selbst freuen, wenn die Geschichte anhält, im allumfassenden Staat. Bis dahin löst jeder ihrer Siege einen Streit aus, der ihn nichtig macht. Das deutsche Volk befreit sich von seinen alliierten Bedrückern, aber um den Preis der Freiheit jedes einzelnen Deutschen. Die Einzelnen in einem totalitären Staat sind nicht frei, obwohl der Kollektivmensch befreit ist. Am Schluss, wenn das Reich die ganze Gattung befreit, wird die Freiheit über Sklavenherden herrschen, die zum mindesten frei in Bezug auf Gott und jede Transzendenz im Allgemeinen sein werden. Das dialektische Wunder, die Umwandlung der Quantität in Qualität, erhellt sich hier: Man beschließt die völlige Knechtschaft Freiheit zu nennen. Wie übrigens in allen von Hegel und Marx zitierten Beispielen gibt es keineswegs eine objektive Umwandlung, sondern eine subjektive Änderung der Benennung. Es gibt kein Wunder. Wenn es die einzige Hoffnung des Nihilismus ist, Millionen von Sklaven könnten eines Tages eine für immer befreite Menschheit bilden, ist die Geschichte nur ein verzweifelter Traum. Das geschichtliche Denken sollte den Menschen von der Unterwürfigkeit unter Gott befreien, doch verlangt diese Befreiung von ihm die vollständigste Unterwerfung unter das Werden. Dann rennt man zum Parteibüro, wie man sich vor dem Altar niederwarf. Aus diesem Grund bietet die Epoche, die sich als im schärfsten Aufstand zu bezeichnen wagt, nur die Wahl zwischen mehreren Konformismen. Die wahre Leidenschaft des 20. Jahrhunderts ist die Knechtschaft.
    Aber die totale Freiheit ist nicht bequemer zu erobern alsdie individuelle. Um die Herrschaft

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