Camus, Albert

entgegengesetzten menschlichen Natur bestimmen. Der Mensch muss jedoch im Gegenteil im sozialen und rationalen Ich, einem Gegenstand der Berechnung, aufgehen. Es galt also nicht nur, das Leben eines jeden zu versklaven, sondern auch das irrationalste und einsamste Ereignis, dessen Erwartung den Menschen sein Leben lang begleitet. In seinem krampfhaften Streben nach der endgültigen Herrschaft sucht das Reich, den Tod in sich einzubeziehen.
    Man kann einen lebenden Menschen knechten und ihn aufden geschichtlichen Zustand einer Sache reduzieren. Doch wenn er stirbt und sich dagegen aufbäumt, hält er eine menschliche Natur hoch, die diesen Zustand verwirft. Deshalb wird der Angeklagte der Welt nur vorgeführt, wenn er gesteht, sein Tod sei gerecht und angemessen dem Reich der Sachen. Man muss ehrlos sterben oder nicht mehr sein, weder im Leben noch im Tod. In diesem Fall stirbt man nicht, man verschwindet. Wenn der Verurteilte eine Strafe erleidet, erhebt seine Strafe einen stummen Protest und bringt einen Riss in die Totalität. Aber der Verurteilte wird nicht bestraft, er wird in die Totalität zurückgestellt, er erbaut die Maschine des Reichs. Er verwandelt sich in ein Rad der Produktion, das so unentbehrlich ist, dass er auf die Dauer in der Produktion nicht deshalb verwendet wird, weil er schuldig ist, sondern schuldig gesprochen wird, weil die Produktion ihn braucht. Das russische System der Konzentrationslager hat in der Tat den dialektischen Übergang von der Regierung der Personen zur Verwaltung der Sache verwirklicht, aber indem es die Person und die Sache gleichsetzte.
    Selbst der Feind muss am gemeinsamen Werk mitarbeiten. Außerhalb des Reichs kein Heil. Dies Reich ist oder wird ein Reich der Freundschaft sein. Doch die Freundschaft ist eine solche der Dinge, denn der Freund kann nicht dem Reich vorgezogen werden. Die Freundschaft mit Personen ist, eine andere Definition gibt es nicht, die besondere Solidarität bis zum Tod, gegen das, was nicht zum Herrschaftsbereich der Freundschaft gehört. Die Freundschaft mit den Dingen ist die Freundschaft im Allgemeinen, die Freundschaft mit allen, die, wenn sie sich schützen muss, die Denunziation eines jeden voraussetzt. Wer seine Freundin oder seinen Freund liebt, liebt ihn in der Gegenwart, die Revolution will jedoch einen Menschen lieben, der noch nicht da ist. Auf bestimmte Weise lieben heißt den vollendeten Menschen töten, derdurch die Revolution entstehen soll. Um eines Tages zu leben, muss er schon heute allem vorgezogen werden. Unter der Herrschaft der Personen verbinden sich die Menschen aus Zuneigung; im Reich der Sachen vereinigen sich die Menschen durch das Denunziantentum. Der Staat, der die Brüderlichkeit für sich beanspruchte, wird ein Ameisenhaufen einsamer Menschen.
    Auf einer andern Ebene kann nur die irrationale Wut eines Rohlings sich vorstellen, dass man Menschen sadistisch foltern müsse, um ihre Zustimmung zu erlangen. Dann unterjocht nur ein Mensch den andern in einer schmutzigen Paarung. Der Vertreter der rationalen Totalität begnügt sich im Gegenteil damit, im Menschen das Ding über die Person das Übergewicht gewinnen zu lassen. Der höchste Geist wird durch die polizeiliche Amalgam-Technik auf den Rang des niedrigsten herabgewürdigt. Dann werden fünf, zehn, zwanzig schlaflose Nächte mit einer illusorischen Überzeugung fertig und bringen eine neue tote Seele auf die Welt. Unter diesem Gesichtspunkt wurde die einzige psychologische Revolution, die unsere Zeit nach Freud erfahren hat, vom NKWD und der politischen Polizei im Allgemeinen durchgeführt. Geleitet von einer deterministischen Hypothese, die schwachen Punkte und den Elastizitätsgrad der Seele genau berechnend, haben diese neuen Techniken eine der Grenzen des Menschen weiter vorgetrieben und versuchen nun den Nachweis zu erbringen, dass keine individuelle Psychologie Originalität hat und das gemeinsame Maß der Charaktere die Sache ist. Sie haben buchstäblich die Physik der Seelen erfunden.
    Von da an wurden die überlieferten menschlichen Beziehungen umgewandelt. Diese fortschreitenden Umformungen kennzeichnen die Welt des rationalen Terrors, in der zu verschiedenen Graden Europa lebt. Der Dialog, die Beziehungzwischen zwei Personen, wurde ersetzt durch die Propaganda oder die Polemik, zwei verschiedene Arten des Monologs. Die Abstraktion, die der Welt der Kräfte und der Berechnung eigen ist, ersetzte die wahren Leidenschaften, die dem Leib und dem Irrationalen