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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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insofern als sie versucht, einem Wert Form zu geben, der im ewigen Werden entflieht, den der Künstler jedoch spürt und der Geschichte entreißen will. Man vergewissert sich dessen nochbesser, wenn man an die Kunstform denkt, die es sich vornimmt, gerade ins Werden einzudringen und ihm den fehlenden Stil zu geben: den Roman.

    Roman und Revolte

    Man kann die Literatur der Zustimmung zur Welt, die im Großen und Ganzen mit der Antike und den Jahrhunderten der Klassik zusammenfällt, trennen von der Literatur der Abspaltung von ihr, die mit der Neuzeit beginnt. Man wird dabei die Seltenheit des Romans in der Ersteren feststellen. Wenn er vorkommt, betrifft er mit wenigen Ausnahmen nicht die Geschichte, sondern die Phantasie (Theagenes und Charikleia 96 , oder Astrée 97 ). Es sind Erzählungen, keine Romane. Mit der Letzteren hingegen setzt die eigentliche Entwicklung der Gattung des Romans ein, die nicht aufgehört hat, bis heute immer reicher und verbreiteter zu werden, zu gleicher Zeit wie die kritische und revolutionäre Bewegung. Der Roman entsteht gleichzeitig mit dem Geist der Revolte und zeugt auf ästhetischer Ebene vom gleichen Ehrgeiz.
    «Eine erfundene Geschichte in Prosa», nennt Littre den Roman. Nichts weiter? Ein katholischer Kritiker, Stanislas Fumet, hat jedoch geschrieben: «Die Kunst, was immer ihr Ziel sei, tritt in einen sündigen Wettstreit mit Gott.» Es ist zutreffender, in der Tat, beim Roman vom Wettstreit mit Gott zu sprechen als von einem solchen mit dem Zivilstand. Thibaudet drückte etwas Ähnliches aus, als er von Balzacsagte: «Die ‹Menschliche Komödie› ist die ‹Imitatio› 98 von Gott Vater.» Das Bemühen der hohen Literatur scheint zu sein, geschlossene Welten oder vollendete Typen zu schaffen. Das Abendland gibt sich in seinen großen Schöpfungen nicht damit zufrieden, sein tägliches Leben nachzuzeichnen. Unaufhörlich hält es sich Bilder vor Augen, die es berauschen, und macht sich an ihre Verfolgung.
    Im Grunde genommen ist das Schreiben oder Lesen eines Romans eine ungewöhnliche Handlung. Durch neuartiges Zusammenfügen von Tatsachen eine Geschichte aufzubauen hat nichts Zwingendes. Selbst wenn die übliche Erklärung: das Vergnügen des Schöpfers und des Lesers, wahr wäre, müsste man sich fragen, durch welchen Zwang denn die meisten Leute gerade an erfundenen Geschichten Freude und Interesse haben. Die revolutionäre Kritik verurteilt den reinen Roman als Flucht einer müßigen Phantasie. Die Alltagssprache wiederum nennt ‹Roman› den lügenhaften Bericht eines ungeschickten Journalisten. Vor einigen Jahrzehnten verlangte der Sprachgebrauch, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, dass die Mädchen ‹romanhaft schwärmerisch› seien. Darunter verstand man, dass diese Idealgestalten sich von den Realitäten des Lebens keine Rechenschaft gäben. Allgemein gesprochen, hielt man immer dafür, dass das Romanhafte sich vom Leben trennt, es verschönert und zugleich verrät. Die einfachste und allgemeinste Betrachtungsweise sieht also im romanhaften Ausdruck einen Fluchtversuch. Die allgemeine Anschauung trifft sich hier mit der revolutionären Kritik.
    Aber wovor entweicht man in den Roman? Vor einerscheinbar erdrückenden Wirklichkeit? Auch die glücklichen Menschen lesen Romane, und es war immer so, dass das äußerste Leiden die Lust zur Lektüre nimmt. Anderseits hat die Welt des Romans sicher weniger Gewicht und Gegenwart als jene andere Welt, in der Menschen aus Fleisch und Blut uns unablässig belagern. Durch welches Geheimnis jedoch kommt uns Adolphe viel vertrauter vor als Benjamin Constant, der Graf Mosca 99 vertrauter als unsere berufsmäßigen Moralisten? Balzac beendete eines Tages ein langes Gespräch über Politik und das Schicksal der Welt mit den Worten: «Kehren wir jetzt zu den ernsthaften Dingen zurück» – er meinte damit seine Romane. Die unbezweifelbare Gewichtigkeit der romanhaften Welt, die Beharrlichkeit, mit der wir in der Tat die unzähligen, uns seit zwei Jahrhunderten vorgeführten Mythen ernst nehmen, der Hang zur Flucht genügen zur Erklärung nicht. Gewiss setzt die Arbeit am Roman eine Art Abweisung des Wirklichen voraus, doch ist diese Abweisung nicht einfach Flucht. Man muss darin die Rückzugsbewegung der schönen Seele sehen, die, nach Hegel, in ihrer Enttäuschung sich selbst eine künstliche Welt erschafft, in der allein die Moral herrscht. Der Erbauungsroman bleibt indes der hohen Literatur recht fern, und der beste der

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