Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
Vom Netzwerk:
Not, die ausruft: «Auch, so gebt doch Wahnsinn … Wenn ich nicht mehr als das Gesetz, bin ich von allen der Verworfenste.» Wer in der Tat sich nicht über das Gesetz stellen kann, muss ein anderes Gesetz finden oder im Wahnsinn enden. Sobald der Mensch nicht mehr an Gott noch an das unsterbliche Leben glaubt, wird er «verantwortlich für alles, was lebt, für alles, was unter Schmerzen geboren, dem Leiden am Leben ausgesetzt ist». Ihm allein kommt es zu, die Ordnung und das Gesetz zu finden. So beginnt die Zeit der Verstoßenen,die aufreibende Suche nach Rechtfertigungen, die Sehnsucht ohne Ziel, «die schmerzlichste, die schneidendste Frage eines Herzens, das sich fragt: Wo kann ich heimisch werden?»
    Da er selber ein freier Geist war, wusste Nietzsche, dass die Freiheit des Geistes nichts Bequemes ist, sondern etwas Großes, das man begehrt und erhält zuzeiten nach zermürbendem Kampf. Er wusste, dass die Gefahr groß ist für den, der sich über das Gesetz stellen will, unter dieses Gesetz hinabzufallen. Darum hat er verstanden, dass der Geist seine wahre Mündigkeit nur finden wird in der Übernahme neuer Pflichten. Das Wesentliche seiner Entdeckung besteht in dem Satz, dass, wenn das ewige Gesetz nicht die Freiheit ist, die Gesetzlosigkeit sie noch weniger ist. Wenn nichts wahr und die Welt ohne Vorschrift ist, ist nichts verboten; um eine Tat zu verbieten, bedarf es tatsächlich eines Wertes und eines Ziels. Doch zu gleicher Zeit ist nichts erlaubt; es bedarf ebenfalls eines Wertes und Ziels, um eine andere Tat zu unternehmen. Die absolute Herrschaft des Gesetzes ist nicht die Freiheit, aber ebenso wenig die absolute Selbstverfügbarkeit. Alle Möglichkeiten zusammengezählt, ergeben nicht die Freiheit, doch das Unmögliche ist Sklaverei. Auch das Chaos ist eine Knechtschaft. Freiheit gibt es nur in einer Welt, wo das Mögliche zu gleicher Zeit bestimmt wird wie das Unmögliche. Ohne Gesetz keine Freiheit. Ist das Schicksal nach keinem höheren Wert ausgerichtet, ist der Zufall König, so beginnt der Weg ins Dunkle, die entsetzliche Freiheit des Blinden. Als Ziel der größten Befreiung wählt Nietzsche demnach die größte Abhängigkeit. «Wenn wir aus dem Tod Gottes nicht einen großen Verzicht und einen fortwährenden Sieg über uns selbst machen, werden wir für diesen Verlust zu bezahlen haben.» Mit andern Worten mündet mit Nietzsche die Revolte in die Askese ein. Eine tiefere Logik ersetzt dannKaramasows «Wenn nichts wahr ist, ist alles erlaubt». Bestreiten, dass etwas auf dieser Welt verboten ist, kommt einem Verzicht gleich auf das, was erlaubt ist. Wo niemand mehr sagen kann, was schwarz, was weiß ist, erlischt das Licht, und die Freiheit wird ein freiwilliges Gefängnis.
    In diese Sackgasse, in die Nietzsche seinen Nihilismus mit Methode hineintreibt, wirft er sich, so kann man sagen, gleichsam mit einer fürchterlichen Freude. Sein zugegebenes Ziel geht dahin, die Lage des Menschen seiner Zeit unhaltbar zu machen. Die einzige Hoffnung war anscheinend für ihn, bis ans äußerste Ende des Widerspruchs vorzustoßen. Wenn der Mensch dann nicht in den Schlingen sterben will, die ihn erwürgen, muss er sie mit einem Streich zerschneiden und seine eigenen Werke erschaffen. Der Tod Gottes vollendet nichts und kann nicht als Lebensgrundlage dienen, es sei denn, er bereite eine Auferstehung vor. «Wenn man die Größe nicht mehr in Gott findet», sagt Nietzsche, «findet man sie nirgends; man muss sie leugnen oder erschaffen.» Sie zu leugnen war die Aufgabe der Welt, die ihn umgab und die er zum Selbstmord eilen sah. Sie zu erschaffen war die übermenschliche Aufgabe, für die er sterben wollte. Er wusste in der Tat, dass die Schöpfung nur in der äußersten Einsamkeit möglich ist und dass der Mensch sich zu dieser schwindelnden Anstrengung nur entschließt, wenn er in grenzenlosestem geistigem Elend sie auf sich nehmen oder sterben muss. Nietzsche ruft ihm somit zu, die Erde sei seine einzige Wahrheit, der er treu bleiben müsse, auf der er leben und sein Heil suchen müsse. Aber er lehrt ihn gleichzeitig, dass das Leben auf einer Erde ohne Gesetz unmöglich ist, weil Leben gerade ein Gesetz voraussetzt. Wie, frei und ohne Gesetz leben? Dieses Rätsel muss der Mensch bei Todesstrafe lösen.
    Nietzsche wenigstens entzieht sich nicht. Er antwortet darauf, und seine Antwort heißt: in der Gefahr; Damoklestanzt niemals besser als unter dem Schwert. Man muss das Unannehmbare annehmen und sich ans

Weitere Kostenlose Bücher