Camus, Albert
nur der moralische Gott widerlegt.» 23 Für Nietzsche wie für Tolstoi ist Christus kein Revoltierender. Das Wesentliche seiner Lehre liegt in der völligen Zustimmung zum Bösen, dem Verzicht auf Widerstand dagegen. Man soll nicht töten, selbst nicht, um das Töten zu verhindern. Man muss die Welt hinnehmen, wie sie ist, sich weigern, ihr Unglück zu vergrößern, doch bereit sein, selber an dem Bösen zu leiden, das sie enthält. Das Himmelreich ist unmittelbar in unserer Reichweite. Es gibt nur eine innere Anlage, die uns erlaubt, unsere Taten mit unseren Prinzipien in Übereinstimmung zu setzen, und die uns die sofortige Glückseligkeit geben kann. Nicht der Glaube, sondern die Werke, das ist nach Nietzsche die Botschaft Christi. Seither ist die Geschichte des Christentums nichts anderes als ein langer Verrat an dieser Botschaft. Das Neue Testament ist bereits verfälscht, und von Paulus bis zu den Konzilien lässt der Dienst am Glauben die Werke vergessen.
Welches ist die tiefgehende Verfälschung, die das Christentum der Botschaft seines Meisters hinzufügt? Die Idee des Gerichts, die der Lehre Christi fremd ist, und die daraus folgendenBegriffe der Strafe und der Belohnung. Von diesem Augenblick an wird die Natur Geschichte, und bedeutsame Geschichte; die Idee menschlicher Ganzheit ist geboren. Von der Frohen Botschaft bis zum Jüngsten Gericht hat die Menschheit keine andere Aufgabe, als sich den ausdrücklich moralischen Absichten eines im Voraus geschriebenen Berichtes anzupassen. Der einzige Unterschied ist, dass die handelnden Personen sich am Schluss selbst in Gute und Böse scheiden. Während das einzige Urteil Christi darin besteht, die Sünde aus innerster Natur in ihrer Wichtigkeit zu verkleinern, macht das historische Christentum aus der Natur die Quelle der Sünde. «Was weist Christus zurück? Alles, was jetzt den Namen christlich trägt.» Das Christentum glaubt gegen den Nihilismus anzukämpfen, weil es der Welt eine Richtung weist, während es selbst nihilistisch ist, insofern es dem Leben einen imaginären Sinn gibt und die Entdeckung seines wahren Sinns verhindert: «Jede Kirche ist der Stein, den man auf das Grab eines Gott-Menschen gerollt hat; sie sucht mit Gewalt zu verhindern, dass er wieder auferstehe.» Nietzsches paradoxe, aber bezeichnende Schlussfolgerung lautet: Gott ist tot infolge des Christentums, insofern nämlich, als dieses das Heilige säkularisiert hat. Darunter muss man das historische Christentum verstehen und «seine tiefe, verachtenswerte Doppelzüngigkeit».
Die gleiche Überlegung stellt Nietzsche vor dem Sozialismus und allen Formen des Humanitarismus an. Der Sozialismus ist nur ein degeneriertes Christentum. Er hält in der Tat diesen Glauben an die Finalität der Geschichte aufrecht, der das Leben und die Natur verrät, der ideale Ziele den realen unterschiebt und dazu beiträgt, den Willen und die Vorstellungskraft zu entnerven. Der Sozialismus ist nihilistisch in dem nunmehr genauen Sinn, den Nietzsche dem Wort gegeben hat. Nihilist ist nicht derjenige, der an nichts glaubt, sondernderjenige, der nicht glaubt an das, was ist. In diesem Sinn sind alle Formen des Sozialismus noch geringwertige Äußerungen der christlichen Dekadenz. Für das Christentum setzten Belohnung und Strafe eine Geschichte voraus. Aber mit unausweichlicher Logik bedeutet die ganze Geschichte am Ende nur Belohnung und Strafe: An diesem Tage entstand der kollektivistische Messianismus. Somit führt die Gleichheit der Seelen vor Gott, da Gott tot ist, zur Gleichheit schlechthin. Auch hier bekämpft Nietzsche die sozialistische Lehre als eine moralische. Der Nihilismus, äußere er sich in der Religion oder in sozialistischen Predigten, ist das logische Endergebnis unserer sogenannten höheren Werte. Der freie Geist wird diese Werte zerstören, die Illusionen aufdecken, auf denen sie beruhen, das Feilschen, das ihnen zugrunde liegt, und das Verbrechen, das sie begehen, indem sie die klarsichtige Vernunft an ihrer Aufgabe hindern: den passiven Nihilismus umzuwandeln in einen aktiven.
In dieser von Gott und moralischen Idolen befreiten Welt ist der Mensch nun allein und ohne Herrn. Niemand weniger als Nietzsche, der sich dadurch von den Romantikern unterscheidet, ließ den Glauben aufkommen, eine solche Freiheit sei etwas Leichtes. Diese wilde Befreiung erhob ihn in den Rang derer, von denen er selbst sagte, dass sie neue Leiden und ein neues Glück kennen. Aber zu Beginn ist es die bare
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