Camus, Albert
20. Jahrhundert auszeichnet, das Jahrhundert des Genies, wie er meinte. Diese Methode der Revolte haben wir nun zu prüfen. 22
Der erste Schritt Nietzsches besteht darin, dem zuzustimmen, was er weiß. Der Atheismus ist für ihn ‹konstruktiv und radikal›. Nietzsches höhere Berufung ist es, wenn man ihm glauben will, eine Art von Krise und entscheidendem Spruch zum Problem des Atheismus herbeizuführen. Die Welt nimmt ihren Lauf aufs Geratewohl, sie kennt keinen Endzweck. Also ist Gott unnötig, da er nichts will. Wollte er etwas – man erkennt hier die traditionelle Formulierung des Problems des Bösen –, so müsste er «eine Summe von Schmerzen und Unlogik auf sich nehmen, die den Gesamtwert des Werdens herabsetzte». Wir wissen, dass Nietzsche unverhohlen Stendhal um seinen Ausspruch beneidete: «Die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existiert.» Des göttlichen Willens beraubt, ist die Welt gleicherweise ihrer Einheit und ihrer Finalität beraubt. Aus diesem Grund kann die Welt nicht gerichtet werden. Jedes über sie abgegebene Werturteil führt letztlich zur Verleumdung des Lebens. Denn man urteilt dann über das, was ist, im Hinblick auf das, was sein sollte, auf das Himmelreich, die ewigen Ideen oder den moralischen Imperativ. Aber was sein sollte, ist nicht: Die Welt kann nicht im Namen von nichts abgeurteilt werden. «Der Vorteil dieser Zeit: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.» Diese Wendungen, die in tausend andern widerhallen, prunkvoll oder auch ironisch, belegen zur Genüge, dass Nietzsche die ganze Last des Nihilismus und der Revolte auf sich nimmt. In seinen, übrigens kindischen, Betrachtungen über ‹Zucht und Züchtung› hat er selbst den extremen Schluss des nihilistischen Denkens formuliert: «Problem: Mit welchen Mitteln erzielte man eine strenge Form großen ansteckenden Nihilismus, der mit einem ganz wissenschaftlichen Bewusstsein den Freitod lehrt und ausführt.»
Aber Nietzsche nimmt zugunsten des Nihilismus die Werte in Beschlag, welche nach aller Überlieferung als Bremskräftedes Nihilismus angesehen werden. Hauptsächlich die Moral. Die moralische Verhaltensweise, wie Sokrates sie dargestellt hat und das Christentum sie empfiehlt, ist an sich ein Zeichen von Dekadenz. Sie will anstelle eines Menschen aus Fleisch und Blut den Abglanz eines Menschen setzen. Sie verurteilt die Welt der Leidenschaften und der Aufschreie im Namen einer harmonischen ganz und gar imaginären Welt. Wenn der Nihilismus gekennzeichnet ist durch die Unfähigkeit zu glauben, so besteht sein bedenklichstes Symptom nicht im Atheismus, sondern in der Unfähigkeit zu glauben, was ist, zu sehen, was geschieht, und zu leben, was sich darbietet. Diese Schwäche liegt jedem Idealismus zugrunde. Die Moral hat keinen Glauben an die Welt. Die wahre Moral ist für Nietzsche nicht von der Klarheit getrennt. Er geht ins Gericht mit den ‹Weltverleumdern›, denn er entdeckt hinter dieser Verleumdung die schändliche Neigung zur Ausflucht. Die überlieferte Moral erscheint ihm nur als Spezialfall der Unmoral. «Das Gute», sagt er, «bedarf der Rechtfertigung», oder: «Aus moralischen Gründen wird man eines Tages aufhören, Gutes zu tun.»
Nietzsches Philosophie kreist mit Sicherheit um das Problem der Revolte. Genauer: Sie beginnt, eine Revolte zu sein. Aber man spürt die von Nietzsche vorgenommene Verlagerung. Bei ihm geht die Revolte vom ‹Gott ist tot› aus, das sie für eine ausgemachte Tatsache hält; sie wendet sich darauf gegen alles, was die verschwundene Gottheit fälschlich zu ersetzen trachtet und eine Welt entehrt, die unzweifelbar ohne Richtung und dennoch die einzige Feuerprobe der Götter ist. Im Gegensatz zur Meinung einiger seiner christlichen Kritiker hat Nietzsche nicht den Plan gefasst, Gott zu töten. Er fand ihn tot in der Seele seiner Zeit. Als Erster ermaß er die ungeheure Bedeutung dieses Ereignisses und entschied, dass dieser Aufstand des Menschen nicht zu einer Wiedergeburtführen könne, wenn er nicht geleitet werde. Jede andere Haltung ihm gegenüber: Bedauern oder Nachgiebigkeit, muss den Untergang herbeiführen. Nietzsche hat also keine Philosophie der Revolte verfasst, sondern eine Philosophie auf der Revolte aufgebaut.
Greift er das Christentum im Besondern an, so nur als Moral. Er rührt nie weder die Person Christi noch die zynischen Aspekte der Kirche an. Es ist bekannt, dass er als Kenner die Jesuiten bewunderte. «Im Grunde genommen», schreibt er, «ist
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