Camus, Albert
dem Donner am Horizont, und siehst du nicht den Himmel voll Vorahnung sich verdüstern und schweigen?» Man spürt hier die finstere Lust derer, die in der Dachkammer Weltuntergänge heraufrufen. Nichts kann mehr diese bittere und gebieterische Logik bremsen, nichts als ein Ich, das gegen alle Abstraktionen aufsteht, selbst abstrakt und unnennbar geworden, weil ständig eingesperrt und von seinen Wurzeln abgeschnitten. Es gibt keine Verbrechen und keine Vergehen mehr, somit auch keine Sünder. Wir sind alle vollkommen. Da an und für sich jedes Ich von Grund auf verbrecherisch dem Staat und dem Volk gegenüber ist, wollen wir erkennen, dass leben gleichbedeutend ist mit übertreten. Um einzig zu sein, muss, wer nicht den Tod auf sich nimmt, auf sich nehmen zu töten. «Ihr seid nicht so groß wie ein Verbrecher, ihr, die ihr nichts entweiht.» Noch ängstlich präzisiert Stirner im Übrigen: «Sie töten, nicht sie martern!»
Aber die Legitimität des Mordes verfügen heißt die Mobilisierung und den Krieg der Einzigen verfügen. Der Mord fällt damit mit einer Art kollektiven Selbstmords zusammen. Stirner, der nichts dergleichen eingesteht oder sieht, weicht indessen vor keiner Zerstörung zurück. Der Geist der Revolte findet schließlich eine seiner bittersten Befriedigungenim Chaos. «Man wird dich (das deutsche Volk) zu Grabe tragen. Bald werden deine Brüder, die Völker, dir nachfolgen; wenn alle deiner Spur gefolgt sind, wird die Menschheit begraben sein, und auf deinem Grab werde ich, endlich mein eigener Herr, ich, dein Erbe, werde lachen.» So kündet auf den Ruinen der Welt das trostlose Lachen des königlichen Individuums den letzten Sieg des Geistes der Revolte. Doch an diesem äußersten Punkt ist nichts anderes mehr möglich als der Tod oder die Auferstehung. Stirner und mit ihm alle nihilistischen Rebellen eilen, im Rausch der Zerstörung, auf diesen Grenzpunkt zu. Danach, ist die Wüste einmal entdeckt, gilt es zu lernen, in ihr sein Leben zu fristen. Nietzsches Suche beginnt.
Nietzsche und der Nihilismus
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Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit Gottes, nur dadurch erlösen wir die Welt.» Mit Nietzsche scheint der Nihilismus prophetisch zu werden. Aber man kann Nietzsche nichts anderes entnehmen als die niedrige, gemeine Grausamkeit, die er mit aller Kraft hasste, solange man nicht an die erste Stelle in seinem Werk, weit vor den Propheten, den Kliniker stellt. Der provisorische, methodische, mit einem Wort strategische Charakter seines Worts kann nicht bezweifelt werden. In ihm tritt zum ersten Mal der Nihilismus ins Bewusstsein. Die Chirurgen haben mit den Propheten das gemein, dass sie im Hinblick auf die Zukunft denken und eingreifen. Nietzsche hat nie anders gedacht als im Hinblick auf den Untergang, nicht um ihn zu verherrlichen, denn er erriet das schmutzige und berechnende Gesicht, das er schließlich annehmen würde, sondern um ihn zu vermeiden und ihn umzuwandeln in Wiederaufstieg. Er hat den Nihilismuserkannt und ihn geprüft wie einen klinischen Fall. Er nannte sich den ersten vollkommenen Nihilisten Europas. Nicht aus Neigung, sondern aus innerer Anlage, und weil er zu groß war, das Erbe seiner Zeit auszuschlagen. Er hat in sich selbst und bei den andern die Unfähigkeit zu glauben diagnostiziert sowie den Schwund der elementaren Grundlage jedes Glaubens, des Vertrauens zum Leben. «Kann man in der Revolte leben?», wird bei ihm zu «kann man ohne Glauben leben?» Seine Antwort ist bejahend. Ja, wenn man aus dem Mangel an Glauben eine Methode macht, wenn man den Nihilismus zur letzten Konsequenz treibt und wenn man – in die Wüste vorstoßend und dem Kommenden Vertrauen schenkend – mit der gleichen elementaren Bewegung Freude und Schmerz empfindet.
Anstelle des methodischen Zweifels übt er die methodische Verneinung, die Vernichtung dessen, was den Nihilismus vor sich selbst verbirgt, der Idole, die den Tod Gottes verschleiern. «Um ein neues Heiligtum aufzurichten, muss man ein Heiligtum niederreißen, so ist das Gesetz.» Wer im Guten und im Bösen Schöpfer sein will, muss, seiner Meinung nach, zuerst Zerstörer sein und Werte zerbrechen. «Also gehört das höchste Böse zum höchsten Guten, aber das höchste Gute ist schöpferisch.» Er hat auf seine Weise den ‹Discours de la méthode› seiner Zeit geschrieben, ohne die Freiheit und die Genauigkeit des französischen 17. Jahrhunderts, das er so bewunderte, aber mit der unerhörten Klarheit, die das
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