Camus, Albert
sicher, die Menschen, wenn man es ihnen böte, darauf zustürzen zu sehen. Doch seine unfreiwillige Verantwortung geht noch weiter.
Nietzsche ist tatsächlich, was er zu sein erkannte: das schärfste Bewusstsein des Nihilismus. Der entscheidende Schritt, den er den Geist der Revolte tun lässt, besteht darin, ihn von der Verneinung des Ideals zur Säkularisierung des Ideals überspringen zu lassen. Da das Heil des Menschen sich nicht in Gott vollzieht, muss es sich auf Erden vollziehen. Da die Welt ohne Richtung ist, muss der Mensch, sobald er sie hinnimmt, ihr eine geben, die sie zu einer höheren Menschheit führt. Nietzsche beanspruchte die Leitung der menschlichen Zukunft. «Die Aufgabe, die Welt zu regieren, wird uns zufallen.» Und andernorts: «Die Zeit rückt heran, wo es zu kämpfen gilt um die Herrschaft der Erde, und dieser Kampf wird im Namen der philosophischen Prinzipien geführt werden.» Er kündigte damit das 20. Jahrhundert an. Doch wenn er es ankündigte, so deshalb, weil er die innere Logik des Nihilismus einsah und wusste, dass eines ihrer Endergebnisse die Gewaltherrschaft war. Aber gerade dadurch bereitete er sie vor.
Es gibt eine Freiheit für den Menschen ohne Gott, wie ihn Nietzsche sich vorstellte, d. h. einsam. Es gibt eine Freiheit am Mittag, wenn das Rad der Welt anhält und der Mensch ja sagt zu dem, was ist. Doch das, was ist, wird. Man muss zum Werden ja sagen. Das Licht verblasst schließlich, die Achse des Tages neigt sich. Dann beginnt die Geschichte von neuem, und in der Geschichte muss man die Freiheit suchen; zur Geschichte muss man ja sagen. Der Nietzscheismus, die Theorie des Willens zur individuellen Macht, war dazu verurteilt, sich einzufügen in einen Willen zur totalen Macht. Erwar nichts ohne die Weltherrschaft. Nietzsche hasste zweifellos die Freidenker und Humanitaristen. Er nahm das Wort ‹Geistesfreiheit› in seinem äußersten Sinn: die Göttlichkeit des individuellen Geistes. Aber er konnte nicht verhindern, dass die Freidenker von der gleichen historischen Tatsache ausgingen, dem Tod Gottes, und dass die Konsequenzen die Gleichen waren. Nietzsche hat wohl erkannt, dass der Humanitarismus nur ein der höheren Rechtfertigung beraubtes Christentum war, das den Endzweck bewahrte und den ersten Beweggrund verwarf. Aber er hat nicht bemerkt, dass die Lehre von der sozialistischen Emanzipation durch eine unausweichliche Logik des Nihilismus das übernehmen sollte, wovon er selbst geträumt hatte: das Übermenschentum.
Die Philosophie säkularisiert das Ideal. Aber es kommen die Tyrannen und säkularisieren die Philosophien, die ihnen dazu das Recht geben. Nietzsche hatte diese Beschlagnahme im Falle von Hegel schon gespürt, dessen Originalität seiner Meinung nach darin bestand, einen Pantheismus zu erfinden, in dem das Böse, der Irrtum und das Leiden nicht mehr als Argumente gegen die Gottheit dienen konnten. «Aber der Staat, die bestehenden Mächte haben unverzüglich dies großartige Bestreben ausgenützt.» Er selbst jedoch hatte ein System erdacht, in dem das Verbrechen nicht mehr als Argument gegen irgendetwas dienen konnte und in dem der einzige Wert in der Göttlichkeit des Menschen liegt. Diese großartige Anregung verlangte auch danach, ausgenützt zu werden. Der Nationalsozialismus ist in dieser Hinsicht nur ein kurzlebiger Erbe, der wuterfüllte und spektakuläre Abschluss des Nihilismus. Viel logischer und anspruchsvoller sind die, welche Nietzsche durch Marx korrigierend sich entschließen, ja nur zur Geschichte, nicht mehr zur ganzen Schöpfung zu sagen. Was ist daran erstaunlich? Nietzsche, zum mindesten in seiner Theorie des Übermenschen, und Marx vor ihm mitseiner klassenlosen Gesellschaft ersetzen beide das Jenseits durch das Später. Darin verriet Nietzsche die Griechen und die Lehre Christi, die nach seiner Meinung das Jenseits durch das Sofort ersetzen. Marx dachte wie Nietzsche strategisch und hasste wie er die formale Tugend. Ihre beiden Revolten, die gleicherweise mit der Zustimmung zu einem bestimmten Teil der Realität enden, verschmelzen im Marxismus-Leninismus und verkörpern sich in jener Kaste, von der Nietzsche schon sprach, die «den Priester, den Erzieher, den Arzt ersetzen soll». Ein, freilich grundlegender, Unterschied besteht darin, dass Nietzsche in Erwartung des Übermenschen vorschlug, ja zu sagen zu dem, was ist, und Marx, zu dem, was wird. Für Marx ist die Natur das, was man unterwirft, um der Geschichte zu gehorchen,
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