Camus, Albert
verhängt, der sich weigert, ihm zu gehorchen, ist nichts anderes als eine Art «Nötigung, frei zu sein». Die Vergöttlichung ist vollendet, wenn Rousseau, den Souverän von seinen Ursprüngen selbst abtrennend, dahin kommt, den Gesamtwillen vom Willen aller zu unterscheiden. Das kann logisch von Rousseaus Voraussetzungen abgeleitet werden. Wenn der Mensch von Natur aus gut ist, wenn die Natur in ihm gleichbedeutend ist mit der Vernunft 35 , drückt er die Vortrefflichkeit der Vernunft aus, unter der einen Bedingung, dass er sich frei und naturgegeben ausdrückt. Er kann also auf seinen Entschluss nicht mehr zurückkommen, der fortan über ihm schwebt. Der Gesamtwille ist in erster Linie Ausdruck der allgemeinen Vernunft, und diese ist kategorisch. Der neue Gott ist geboren.
Das ist der Grund, weshalb im ‹Contrat social› am häufigstendie Worte ‹absolut›, ‹heilig›, ‹unantastbar› vorkommen. Der so definierte politische Leib, dessen Gesetz heiliges Gebot ist, ist nur ein Ersatz des mystischen Leibs des zeitlichen Christentums. Der ‹Contrat social› endet im Übrigen mit der Beschreibung einer bürgerlichen Religion und macht Rousseau zum Vorläufer der heutigen Gesellschaften, die nicht nur die Opposition, sondern auch die Neutralität ausschließen. Als Erster in der Tat richtet Rousseau das bürgerliche Glaubensbekenntnis ein. Als Erster rechtfertigt er die Todesstrafe in einer bürgerlichen Gesellschaft und die absolute Unterwerfung des Untertans unter die Königsmacht des souveränen Volkes. «Um nicht das Opfer eines Mörders zu werden, willigt man ein zu sterben, wenn man einer wird.» Sonderbare Rechtfertigung, die jedoch mit Bestimmtheit festlegt, dass man zu sterben bereit sein muss, wenn der Souverän es befiehlt, und dass man ihm nötigenfalls recht geben muss gegen sich selbst. Dieser mystische Begriff rechtfertigt das Schweigen Saint-Justs von seiner Verhaftung bis zum Schafott. Richtig entwickelt, erklärt er auch den Enthusiasmus der Angeklagten in Stalins Prozessen.
Wir erkennen hier die Morgenröte einer Religion mit ihren Märtyrern, Asketen und Heiligen. Um den Einfluss richtig beurteilen zu können, den dieses Evangelium gewonnen hat, muss man eine Vorstellung von dem begeisterten Ton der Proklamationen von 1789 haben. Vor den in der Bastille zutage geförderten Gebeinen ruft Fauchet aus: «Der Tag der Offenbarung ist gekommen … auf den Ruf der französischen Freiheit haben sich die Gebeine erhoben; sie zeugen gegen die Jahrhunderte der Bedrückung und des Todes, prophezeien die Erneuerung der menschlichen Natur und des Lebens der Nationen.» Dann weissagt er: «Wir haben die Mitte der Zeiten erreicht. Die Tyrannen sind reif.» Das ist der Augenblick eines hingerissenen und großherzigen Glaubens,als in Versailles ein bewundernswertes Volk das Schafott und das Rad umstürzt. 36 Das Schafott erscheint als Altar der Religion der Ungerechtigkeit. Der neue Glaube kann sie nicht dulden. Doch der Augenblick kommt, wo der Glaube, wird er dogmatisch, seine eigenen Altäre aufstellt und bedingungslose Anbetung verlangt. Dann erscheinen die Schafotte von neuem, und trotz der Altäre, der Freiheit, der Eide und der Feste der Vernunft werden die Messen des neuen Glaubens im Blut gefeiert. Jedenfalls muss, damit das Jahr 1789 den Beginn der Herrschaft der ‹Heiligen Menschheit› . (Vergniaud) und ‹Unseres Herren, des Menschengeschlechtes› . (Anacharsis Cloots) anzeigt, zuerst der gestürzte Souverän verschwinden. Die Ermordung des Priester-Königs bekräftigt das neue Zeitalter, das noch andauert.
Die Tötung des Königs
Saint Just hat die Ideen Rousseaus in die Geschichte eingeführt. Im Prozess gegen den König besteht das Wesentliche seiner Beweisführung darin, zu sagen, der König sei nicht unantastbar und müsse von der gesetzgebenden Versammlung, nicht von einem Gericht abgeurteilt werden. Was seine Argumente angeht, verdankt er sie Rousseau. Ein Gericht kann zwischen König und Souverän Richter sein. Der Gesamtwille kann nicht vor einen gewöhnlichen Richter geladen werden. Er steht über allem. Die Unantastbarkeit und die Transzendenz dieses Willens werden also proklamiert. Wir wissen aber, dass im Gegenteil die Unantastbarkeit derPerson des Königs das Hauptthema des Prozesses war. Der Kampf zwischen Gnade und Gerechtigkeit findet 1793 seinen provokantesten Ausdruck, wo sich zwei Auffassungen der Transzendenz tödlich bekämpfen. Im Übrigen erkennt Saint-Just genau
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