Camus, Albert
die Größe des Einsatzes: «Der Geist, mit dem man den König richten wird, wird der gleiche sein, mit dem man die Republik errichten wird.»
Saint-Justs berühmte Rede hat somit ganz das Aussehen einer theologischen Studie. «Ludwig, ein Fremdling unter uns», das ist die These des jugendlichen Anklägers. Wenn ein natürlicher oder bürgerlicher Vertrag den König und sein Volk noch binden könnte, gäbe es gegenseitige Verpflichtungen; der Wille des Volkes könnte sich nicht zum absoluten Richter aufwerfen, um einen absoluten Richtspruch zu fällen. Es geht also um den Beweis, dass keine Beziehung das Volk an den König bindet. Um zu beweisen, dass das Volk selbst die ewige Wahrheit ist, muss man zeigen, dass das Königtum als solches ewiges Verbrechen ist. Saint-Just stellt daher das Axiom auf, dass jeder König Rebell oder Usurpator sei. Er ist ein Rebell gegen das Volk, dessen absolute Souveränität er usurpiert. Die Monarchie ist keineswegs ein König, «sie ist das Verbrechen». Nicht ein Verbrechen, sondern das Verbrechen, meint Saint-Just, d. h. die absolute Entweihung. Das ist der genaue und zugleich extreme Sinn von Saint-Justs Wort, dessen Bedeutung man zu weit ausgedehnt hat 37 : «Niemand kann schuldlos herrschen.» Jeder König ist schuldig, und durch die Tatsache, dass ein Mensch sich anmaßt, König zu sein, ist er dem Tod geweiht. Saint-Just sagt genau das Gleiche, wenn er darauf darlegt, dass die Souveränität desVolkes ‹etwas Heiliges› ist. Die Bürger sind untereinander unantastbar und heilig und können sich nur durch das Gesetz, den Ausdruck ihres gemeinsamen Willens, zu etwas zwingen. Ludwig genießt als Einziger diese besondere Unverletzlichkeit und die Hilfe des Gesetzes nicht, weil er außerhalb des Vertrages steht. Er ist kein Teil des Gesamtwillens, ist er doch im Gegenteil gerade durch sein Dasein ein Lästerer dieses allmächtigen Willens. Er ist kein ‹Bürger›, die einzige Art, an der jungen Gottheit teilzuhaben. «Was ist ein König neben einem Franzosen?» Er muss also gerichtet werden und weiter nichts.
Doch wer wird diesen Willen deuten und das Urteil sprechen? Die gesetzgebende Versammlung, welche aufgrund ihres Ursprungs eine Stellvertretung dieses Willens innehat und als ein von oben inspiriertes Konzil an der neuen Gottheit teilhat. Soll man darauf das Urteil vom Volk bestätigen lassen? Man weiß, dass die Bemühungen der Monarchisten in der gesetzgebenden Versammlung sich schließlich auf diesen Punkt konzentrieren. Das Leben des Königs konnte so der Logik der Bürger-Juristen entzogen werden, um wenigstens den spontanen Leidenschaften und dem Mitgefühl des Volkes anvertraut zu werden. Aber auch hier treibt Saint-Just seine Logik bis ans Ende und benützt den von Rousseau erfundenen Gegensatz zwischen dem Gesamtwillen und dem Willen aller. Wenn auch alle verziehen, der Gesamtwille könnte es nicht. Selbst das Volk kann das Verbrechen der Tyrannei nicht auswischen.
Kann das Opfer in der Rechtsprechung seine Klage nicht zurückziehen? Wir sind nicht in der Rechtsprechung, sondern in der Theologie. Das Verbrechen des Königs ist zu gleicher Zeit eine Sünde gegen die höchste Ordnung. Ein Verbrechen wird begangen und dann verziehen, bestraft oder vergessen. Doch das Verbrechen des Königtums ist andauernd,es ist an die Person des Königs gebunden, an sein Dasein. Christus selbst kann wohl den Schuldigen vergeben, die falschen Götter jedoch nicht freisprechen. Sie müssen verschwinden oder siegen. Wenn das Volk heute verziehe, würde es morgen das Verbrechen ungeschmälert wiederfinden, selbst wenn der Verbrecher im Frieden der Gefängnisse schläft. Es gibt also nur einen Ausweg: «die Ermordung des Volkes rächen durch den Tod des Königs».
Saint-Justs Rede hat kein anderes Ziel, als dem König einen Ausweg nach dem andern zu versperren, außer demjenigen zum Schafott. Wenn die Voraussetzungen des ‹Contrat social› angenommen werden, ist dies Beispiel in der Tat logischerweise unvermeidlich. Nach ihm werden schließlich «die Könige in die Wüste fliehen, und die Natur wird ihre Rechte wiedergewinnen». Der Konvent konnte lange einen Vorbehalt aussprechen und sagen, er präjudiziere nichts, wenn er Ludwig XVI. richte oder wenn er eine Sicherheitsmaßnahme verfüge. Er entzog sich damit seinen eigenen Grundsätzen und versuchte durch eine unliebsame Heuchelei seine wirkliche Absicht zu verbergen, die darin bestand, einen neuen Absolutismus zu begründen.
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