Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
Vom Netzwerk:
Instanz mit nichts anderem vertragen. Sie kann in einigen Punkten nachgeben, niemals im letzten. Doch das genügt nicht. Ludwig XVI. wollte, nach Michelet, noch im Gefängnis König sein. Irgendwo im Frankreich der neuen Prinzipien verewigte sich also das besiegtePrinzip zwischen den Mauern eines Gefängnisses durch die Kraft des bloßen Daseins und des Glaubens. Die Gerechtigkeit hat das, und nur das, mit der Gnade gemeinsam, dass sie total sein und absolutistisch herrschen will. Sobald sie in Konflikt treten, tragen sie einen tödlichen Kampf aus. «Wir wollen den König nicht verurteilen», sagt Danton, der nicht die guten Manieren eines Juristen hat, «wir wollen ihn töten.» Leugnet man Gott, so muss man in der Tat den König töten. Scheinbar lässt Saint-Just Ludwig XVI. töten; doch wenn er ausruft: «Das Prinzip bestimmen, kraft dessen der Angeklagte vielleicht sterben wird, heißt das Prinzip bestimmen, von dem die Gesellschaft lebt, die das Urteil fällt», so zeigt er, dass die Philosophen den König töten werden: Der König muss sterben im Namen des ‹Contrat social›. 33 Doch das muss erläutert werden.

    Das neue Evangelium

    Der ‹Contrat social› ist in erster Linie eine Untersuchung über die Legitimität der Macht. Aber als Buch vom Recht und nicht von den Tatsachen 34 ist es keinen Augenblick eine Sammlung soziologischer Beobachtungen. Seine Untersuchung betrifft die Prinzipien. Schon dadurch ist sie eine Bestreitung. Sie setzt voraus, dass die überlieferte Legitimität, vermeintlich göttlichen Ursprungs, nicht unumstößlich ist.Sie kündigt also eine andere Legitimität an und andere Prinzipien. Der ‹Contrat social› ist zugleich ein Katechismus und hat dessen Ton und dogmatische Sprache. Wie das Jahr 1789 die Eroberungen der englischen und amerikanischen Revolutionen vollendet, treibt Rousseau die Theorie des Vertrags, die man bei Hobbes findet, an ihre äußerste Grenze. Der ‹Contrat social› verbreitet die neue Religion, deren Gott die Vernunft ist, und entwickelt ihre Dogmatik; die Vernunft wird von der Natur nicht unterschieden, und der Repräsentant des neuen Gottes auf Erden ist statt des Königs das Volk, erfasst in seinem Gesamtwillen.
    Der Angriff gegen die überkommene Ordnung ist so offenkundig, dass Rousseau sich vom ersten Kapitel an zu zeigen bemüht, dass der Pakt der Bürger untereinander, aus dem das Volk hervorgeht, älter ist als derjenige des Volkes mit dem König, der die Monarchie begründet. Bis dahin erschuf Gott die Könige, die ihrerseits die Völker schufen. Vom ‹Contrat social› an erschaffen sich die Völker selbst und nachher erst die Könige. Was Gott betrifft, ist von ihm vorübergehend nicht mehr die Rede. Auf dem Gebiet der Politik haben wir hier eine Entsprechung zur Revolution Newtons. Die Macht entspringt also nicht mehr der Willkür, sondern der Zustimmung aller. Mit andern Worten ist sie nicht mehr das, was ist, sondern was sein sollte. Glücklicherweise kann sich nach Rousseau das, was ist, nicht trennen von dem, was sein sollte. Das Volk ist souverän «allein dadurch, dass es immer alles das ist, was sein soll». Angesichts dieser Petitio principii kann man wohl sagen, dass die Vernunft, wiewohl hartnäckig in jener Zeit angerufen, dennoch recht schlecht behandelt wurde. Es ist offensichtlich, dass wir mit dem ‹Contrat social› der Geburt einer Mystik beiwohnen, wird doch der Gesamtwille als Gott selbst postuliert. «Jeder von uns», sagt Rousseau, «unterstellt seine Person und seineMacht der höchsten Führung des Gesamtwillens, und wir empfangen gemeinsam jedes Glied als unabtrennbaren Teil des Ganzen.»
    Diese politische Person, nun souverän geworden, wird auch als göttliche Person definiert. Von dieser hat sie übrigens alle Attribute. Sie ist unfehlbar, da der Souverän in der Tat Missbrauch nicht wollen kann. «Unter dem Gesetz der Vernunft geschieht nichts ohne Grund.» Sie ist vollkommen frei, wenn es wahr ist, dass die absolute Freiheit die Freiheit in Bezug auf sich selbst ist. So erklärt Rousseau, es sei gegen die Natur der politischen Organisation, dass der Souverän sich ein Gesetz auferlegt, das er nicht übertreten kann. Sie ist auch unveräußerlich, unteilbar und zielt letzten Endes darauf ab, das große theologische Problem zu lösen: den Widerspruch zwischen der Allmacht und der Unschuld Gottes. Der Gesamtwille übt in der Tat einen Zwang aus, seine Macht ist grenzenlos. Die Strafe jedoch, die er über den

Weitere Kostenlose Bücher