Camus, Albert
vox naturae.
Ewige Prinzipien lenken unser Verhalten: die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Vernunft. Sie ist der neue Gott. Das höchste Wesen, das ganze Trupps junger Mädchen beim Fest der Vernunft anbeten, ist nur der alte Gott, entkörpert, aller Verbindung mit der Erde jäh enthoben und wie ein Ballon in den leeren Himmel der großen Prinzipien gesandt. Aller Stellvertreter und Mittler bar, hat der Gott der Philosophen nur den Wert einer Demonstration. Er ist recht schwach in Wirklichkeit, und man versteht, dass Rousseau, der die Toleranz predigte, dennoch der Meinung war, man müsse die Atheisten zum Tode verurteilen. Um lange einen Lehrsatz anzubeten, genügt der Glaube nicht, es bedarf noch einer Polizei. Doch das sollte erst später kommen. 1793 ist der neue Glauben noch intakt, und nach Saint-Just genügt es, gemäß der Vernunft zu regieren. Die Staatskunst hat, wie er meint, nur Ungeheuer hervorgebracht, weil man vordem nicht der Natur entsprechend regieren wollte. Die Zeit der Ungeheuer ist vorbei, gleichzeitig mit der der Gewalt. «Das Herz des Menschen schreitet von der Natur zur Gewalt, von der Gewalt zur Moral.» Die Moral ist demnach nur eine nach Jahrhunderten der Entfremdung wiedergefundene Natur. Man gebe dem Menschen bloß Gesetze «gemäß der Natur und seinem Herzen», und er wird nicht länger unglücklich und verderbt sein. Das allgemeine Stimmrecht, die Grundlage der neuen Gesetze, mussmit Notwendigkeit eine allgemeine Moral herbeiführen. «Unser Ziel ist, eine solche Ordnung der Dinge zu schaffen, dass eine allgemeine Neigung zum Guten sich einstellt.»
Die Religion der Vernunft richtet natürlicherweise die Republik der Gesetze ein. Der Gesamtwille spricht sich in Gesetzen aus, die von seinen Vertretern kodifiziert werden. «Das Volk macht die Revolution, der Gesetzgeber die Republik.» Die «unsterblichen, gleichmütigen, vor menschlicher Verwegenheit geschützten» Einrichtungen werden ihrerseits das Leben aller lenken, mit allgemeiner Zustimmung und ohne möglichen Widerspruch, da alle, indem sie den Gesetzen gehorchen, sich selbst gehorchen. «Außerhalb der Gesetze», sagt Saint-Just, «ist alles unfruchtbar, tot.» Da haben wir die römische, form- und gesetzverliebte Republik. Man kennt die Vorliebe Saint-Justs und seiner Zeitgenossen für die römische Antike. Der dekadente junge Mann, der in Reims bei geschlossenen Fensterläden Stunden und Stunden in einem Zimmer mit schwarzem Wandbehang, verziert mit weißen Tränen, zubrachte, träumte von der spartanischen Republik. Der Autor von ‹Organa, eines langen, unzüchtigen Gedichts, empfand ein umso stärkeres Bedürfnis nach Kargheit und Tugend. In seinen Einrichtungen verwehrte Saint-Just den Kindern das Fleisch bis zum Alter von sechzehn Jahren und träumte von einer vegetarischen und revolutionären Nation. «Die Welt ist leer seit den Römern», rief er aus. Aber heroische Zeiten kündigten sich an, Cato, Brutus, Scaevola wurden wieder möglich. Die Rhetorik der lateinischen Moralisten erlebte eine neue Blüte. «Tugend, Laster, Verderbtheit», diese Worte kehren ständig in der Rhetorik jener Zeit wieder und noch mehr in den Reden Saint-Justs, die sie unaufhörlich beschweren. Der Grund dafür ist einfach. Dies schöne Bauwerk konnte, wie Montesquieu es schon vorhersah, die Tugend nicht entbehren. Indem sie danachstrebt, die Geschichte auf einem Prinzip absoluter Reinheit aufzubauen, eröffnet die Französische Revolution die Neuzeit und gleichzeitig die Ära der formalen Moral.
Denn was ist in der Tat die Tugend? Für den bürgerlichen Philosophen der Zeit ist es die Übereinstimmung mit der Natur und in der Politik mit dem Gesetz, das den Gesamtwillen ausdrückt. 40 «Die Moral», sagt Saint-Just, «ist stärker als die Tyrannen.» Tatsächlich hat sie Ludwig XVI. getötet. Jeder Ungehorsam dem Gesetz gegenüber kommt also nicht aus einer, für unmöglich gehaltenen, Unvollkommenheit dieses Gesetzes, sondern aus einem Mangel an Tugend des straffälligen Bürgers. Aus diesem Grund ist die Republik nicht allein ein Senat, wie es Saint-Just kraftvoll ausdrückt, sie ist die Tugend. Jede moralische Verderbtheit ist zugleich politische Verderbtheit und umgekehrt. Ein Prinzip unendlicher Unterdrückung, aus der Doktrin selbst abgeleitet, greift nun um sich. Saint-Just war zweifelsohne aufrichtig in seinem Wunsch einer allgemeinen Idylle. Er träumte wirklich von einer Republik der Asketen, von einer versöhnten Menschheit,
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