Camus, Albert

würdigt das Leben nicht herab. Der industrielle Sozialismus hat nichts Wesentliches getan für die Stellung des Arbeiters, denn er hat an das Prinzip der Produktion und der Arbeiterorganisation nicht gerührt, die er im Gegenteil verherrlichte. Er konnte dem Arbeiter eine geschichtliche Rechtfertigung anbieten, die ebenso viel wert ist wie die Verheißung himmlischer Freuden für den, der in den Sielen stirbt; er gab ihm nie die Freude desSchöpfers. Die politische Form der Gesellschaft ist auf dieser Ebene nicht mehr in Frage gestellt, sondern das Credo einer technischen Kultur, von der Kapitalismus und Sozialismus gleicherweise abhängen. Alles Denken, das dieses Problem nicht vorwärtsbringt, berührt das Unglück des Arbeiters kaum.
    Allein durch das von Marx bewunderte Spiel der wirtschaftlichen Kräfte hat das Proletariat die geschichtliche Mission verworfen, mit der gerade Marx es beauftragt hatte. Sein Irrtum ist entschuldbar, denn angesichts des Verfalls der leitenden Klassen sucht ein kulturbegieriger Mensch instinktiv nach Ersatz-Eliten. Doch diese Forderung ist nicht von sich aus schöpferisch. Das revolutionäre Bürgertum ergriff 1789 die Macht, weil es sie bereits besaß. Das Recht war damals, nach einem Wort von Jules Monnerots, im Rückstand auf die Tatsachen. Tatsache war, dass das Bürgertum schon über die Befehlsstellen und die neue Machtposition, das Geld, verfügte. Das Gleiche trifft für das Proletariat nicht zu, das für sich nur sein Elend und seine Hoffnungen hat und das die Bourgeoisie in diesem Elend festgehalten hat. Durch einen Wahnsinn der Produktion und der materiellen Macht ist die bürgerliche Klasse gesunken; selbst die Organisierung dieses Wahnsinns konnte keine Eliten hervorbringen. Die Kritik dieser Organisation und die Entwicklung des Bewusstseins der Revolte konnten im Gegenteil eine Ersatz-Elite schaffen. Nur die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung mit Pelloutier und Sorel hat diesen Weg eingeschlagen und wollte durch Berufserziehung und Bildung die neuen Kader schaffen, nach denen eine ehrlose Welt rief und noch ruft. Aber das konnte nicht an einem Tag geschehen, und die neuen Herren waren schon da, die ein Interesse daran hatten, das Unglück sofort um eines fernen Glücks willen zu benutzen, statt ungesäumt die fürchterliche Not von Millionen Menschen zulindern. Die autoritären Sozialisten waren der Meinung, die Geschichte schreite zu langsam fort, und um sie zu beschleunigen, müsse man die Sendung des Proletariats einer Handvoll Doktrinären anheimgeben. Gerade dadurch waren sie die ersten, diese Sendung zu leugnen. Sie besteht jedoch, nicht im ausschließlichen Sinn, den ihr Marx zulegte, sondern in der Art einer Sendung jeder Gruppe von Menschen, die aus ihrer Arbeit und ihren Leiden Stolz und Fruchtbarkeit zu gewinnen weiß. Damit sie indessen zutage tritt, muss man ein Risiko eingehen und der Freiheit sowie der Spontaneität der Arbeiter Vertrauen schenken. Der autoritäre Sozialismus hat dagegen diese lebendige Freiheit zugunsten einer idealen, kommenden Freiheit in Beschlag genommen. Dadurch hat er, ob er es wollte oder nicht, die Versklavung verstärkt, die mit dem Fabrik-Kapitalismus begonnen hatte. Durch das vereinte Wirken dieser beiden Faktoren bestand die geschichtliche Mission des Proletariats während hundertfünfzig Jahren, ausgenommen im Paris der Kommune, dem letzten Zufluchtsort der revoltierenden Revolution, darin, verraten zu werden. Die Proletarier haben gekämpft und sind gestorben, um die Macht Militärs oder Intellektuellen, zukünftigen Militärs, zu geben, die sie ihrerseits knechteten. Dieser Kampf machte jedoch ihre Würde aus, anerkannt von allen, die sich für ihre Hoffnung und ihr Unglück entschieden haben. Diese Würde wurde gegen die Clique der alten und neuen Herren erkämpft. Sie verleugnet sie im Augenblick, da sie sie anzuwenden wagen. In gewisser Weise kündigt sie ihre Dämmerung an.
    Die wirtschaftlichen Voraussagen von Marx sind also von der Wirklichkeit zum mindesten in Frage gestellt worden. Wahr bleibt an seinem wirtschaftlichen Weltbild die Bildung einer Gesellschaft, die immer mehr vom Rhythmus der Produktion bestimmt wird. Aber er teilte diese Anschauung inder Begeisterung seines Jahrhunderts mit der bürgerlichen Ideologie. Die bürgerlichen Illusionen bezüglich der Technik und der Wissenschaft, geteilt von den autoritären Sozialisten, riefen eine Zivilisation von Maschinenbändigern hervor, die sich durch