Camus, Albert
eines noch unsichtbaren Tages das Ende alles rechtfertige. Mit andern Worten sind wir im Fegfeuer, und man verspricht uns, es gäbe keine Hölle. Das Problem, das sich nun stellt, ist ganz anderer Art. Wenn der Kampf einer oder zweier Generationen während einer notwendig günstigen wirtschaftlichen Entwicklung genügt, um die klassenlose Gesellschaft herbeizuführen, wird das Opfer für den Streiter verständlich: Die Zukunft hat für ihn ein konkretes Gesicht, dasjenige seines Enkels zum Beispiel. Genügte jedoch das Opfer mehrerer Generationen nicht, und müssen wir nun eine endlose Periode allgemeiner, tausendmal verheerenderer Kämpfe antreten, so brauchen wir dann die Gewissheit des Glaubens, um den Tod und den Totschlag hinzunehmen. Nur ist dieser neue Glaube nicht besser auf reiner Vernunft gegründet, als es die alten waren.
Wie muss man sich in der Tat dieses Ende der Geschichte vorstellen? Marx übernahm nicht die Begriffe von Hegel. Er sagte recht dunkel, der Kommunismus sei nur eine notwendige Form der Zukunft des Menschen, er sei nicht die ganze Zukunft. Aber entweder beendigt der Kommunismus die Geschichte der Widersprüche und des Schmerzes nicht, dann weiß man nicht, wie so viel Anstrengung und Opfer zu rechtfertigen, oder er beendigt sie, dann kann man sich dieFortsetzung der Geschichte nur noch als Marsch nach dieser vollkommenen Gesellschaft vorstellen. Ein mystischer Begriff wird dann willkürlich in eine Schilderung von wissenschaftlichem Anspruch eingeführt. Das schließliche Verschwinden der politischen Wirtschaft, Lieblingsthema von Marx und Engels, bedeutet das Ende jedes Schmerzes. Die Wirtschaft fällt in der Tat mit der Not und dem Unglück der Geschichte zusammen, die mit ihr verschwinden. Wir sind im Garten Eden.
Man kommt nicht weiter, wenn man erklärt, es handle sich nicht um das Ende der Geschichte, sondern um den Sprung in eine andere Geschichte. Diese andere Geschichte können wir uns nur nach unserer eigenen Geschichte vorstellen; die beiden sind für den Menschen nur eine. Diese andere Geschichte stellt im Übrigen dasselbe Dilemma auf. Entweder ist sie nicht die Lösung der Widersprüche und wir leiden, sterben und töten für beinahe nichts, oder sie ist die Lösung der Widersprüche und beendigt praktisch unsere Geschichte. In diesem Stadium rechtfertigt sich der Marxismus nur durch den endgültigen Staat.
Hat dieser Staat letzten Endes einen Sinn? Er hat einen in der Welt des Heiligen, ist das religiöse Postulat einmal anerkannt. Die Welt wurde geschaffen, sie wird ein Ende haben; Adam verließ das Paradies, die Menschheit soll wieder dorthin zurückkehren. In der geschichtlichen Welt hat er jedoch keinen, wenn man das dialektische Postulat anerkennt. Die richtig angewendete Dialektik kann und darf nicht aufhören. Die gegensätzlichen Begriffe einer geschichtlichen Situation können sich gegenseitig verneinen und sich darauf aufheben in einer neuen Synthese. Aber es gibt keinen Grund, dass diese neue Synthese der ersten überlegen sei. Oder vielmehr gibt es dafür nur dann einen Grund, wenn der Dialektik willkürlich ein Ende aufgezwungen wird, wenn man von außenein Werturteil in sie einführt. Wenn die klassenlose Gesellschaft die Geschichte abschließt, ist die kapitalistische Gesellschaft in der Tat der feudalen Gesellschaft insofern überlegen, als sie die Heraufkunft der klassenlosen Gesellschaft näherbringt. Anerkennt man jedoch das dialektische Postulat, so muss man es ganz anerkennen. Wie auf die Gesellschaft der Orden eine solche ohne Orden, aber mit Klassen folgte, muss man sagen, dass auf die Gesellschaft der Klassen eine klassenlose Gesellschaft folgen wird, aber von einem neuen Gegensatz erfüllt, der noch zu definieren ist. Eine Bewegung, der man keinen Anfang zugesteht, kann kein Ende haben. «Wenn der Sozialismus ein ewiges Werden ist, sind seine Mittel sein Ziel», sagt ein freiheitlicher Essayist. 88 Er hat kein Ziel, er hat nur Mittel, die durch nichts gewährleistet sind, wenn nicht durch einen Wert, der dem Werden fremd ist. In diesem Sinn ist die Bemerkung zutreffend, dass die Dialektik nicht revolutionär ist und es nicht sein kann. Sie ist nur, von unserem Standpunkt aus, nihilistisch, eine reine Bewegung, die alles zu verneinen strebt, was nicht sie ist.
Es gibt also in dieser Welt keinen Grund, sich das Ende der Geschichte auszudenken. Es ist jedoch die einzige Rechtfertigung der im Namen des Marxismus von der Menschheit geforderten Opfer.
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