Camus, Albert

verleiten, die Zukunft und den Kommunismus zum Schaden ihrer Postulate und wissenschaftlichen Methode zu prophezeien.
    Diese Weissagung konnte im Gegenteil nur dann wissenschaftlich sein, wenn sie es aufgab, im Absoluten zu prophezeien. Der Marxismus ist nicht wissenschaftlich, er ist bestenfalls wissenschaftsgläubig. Er macht die tiefe Kluft deutlich, die sich zwischen der wissenschaftlichen Vernunft, fruchtbares Instrument der Forschung, des Denkens und selbst derRevolte, und der geschichtlichen Vernunft aufgetan hat, welch Letztere von der deutschen Ideologie in ihrer Verneinung jedes Prinzips erfunden wurde. Die geschichtliche Vernunft ist keine Vernunft, die, ihrer Funktion gemäß, die Welt beurteilt. Sie führt sie gleichzeitig, während sie behauptet, sie zu beurteilen. In das Ereignis verstrickt, leitet sie es. Sie ist pädagogisch und erobernd zugleich. Diese geheimnisvolle Schilderung umfasst übrigens die einfachste Wirklichkeit. Wird der Mensch auf die Geschichte eingeschränkt, hat er keine andere Wahl, als im Lärm und Rasen einer wahnwitzigen Geschichte unterzugehen oder dieser Geschichte die Form der menschlichen Vernunft zu geben. Die Geschichte des zeitgenössischen Nihilismus ist also nichts anderes als der langdauernde Versuch, allein durch die Kräfte des Menschen, durch die Kraft schlechthin, einer Geschichte eine Ordnung zu geben, die sie nicht mehr besitzt. Diese Pseudo-Vernunft identifiziert sich am Schluss mit der List und der Strategie, in der Erwartung, in einem ideologischen Reich zu gipfeln. Was hat die Wissenschaft hier zu suchen? Nichts ist weniger erobernd als die Vernunft. Man macht die Geschichte nicht mit wissenschaftlichen Skrupeln; im Gegenteil, man verurteilt sich dazu, sie nicht zu schaffen, sobald man den Anspruch erhebt, dabei mit der Objektivität von Wissenschaftlern vorzugehen. Die Vernunft wird nicht gepredigt, wenn sie predigt, ist sie nicht mehr die Vernunft. Aus diesem Grund ist die geschichtliche Vernunft eine irrationale und romantische Vernunft, die manchmal an die Systematisierung eines Besessenen gemahnt, die mystische Beteuerung des Wortes von früher.
    Der einzige wirklich wissenschaftliche Aspekt des Marxismus liegt darin, dass er von vornherein die Mythen abweist und die rohesten Interessen ans Licht zieht. Aber in dieser Beziehung ist Marx nicht wissenschaftlicher als LaRochefoucauld; und diese Haltung gibt er gerade auf, sobald er ins Prophezeien kommt. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass man, um den Marxismus wissenschaftlich zu machen und diese im Zeitalter der Wissenschaft nützliche Fiktion aufrechtzuhalten, mit dem Terror vorgehen musste. Der Fortschritt der Wissenschaft seit Marx bestand im Großen darin, den Determinismus und recht groben Mechanismus seines Jahrhunderts durch einen vorläufigen Wahrscheinlichkeitsglauben zu ersetzen. Marx schrieb Engels, die Darwin’sche Theorie stelle die Grundlage ihrer Theorie dar. Damit der Marxismus unfehlbar bleibt, musste man die biologischen Entdeckungen seit Darwin leugnen. Da diese Entdeckungen seit den von de Vries festgestellten sprunghaften Mutationen in die Biologie gegen den Determinismus den Begriff des Zufalls einführten, galt es, Lyssenko mit der Disziplinierung der Chromosomen zu beauftragen und aufs Neue den elementarsten Determinismus nachzuweisen. Das ist lächerlich. Man gebe jedoch Monsieur Homais eine Polizei, und er wird nicht mehr lächerlich sein: Das ist das 20. Jahrhundert. Zu diesem Zweck muss das 20. Jahrhundert auch die Unbestimmtheitsrelation in der Physik, die eingeschränkte Relativität, die Quantentheorie 86 und schließlich die allgemeine Tendenz der modernen Wissenschaft leugnen. Der Marxismus ist heute nur wissenschaftlich, wenn er es gegen Heisenberg, Bohr, Einstein und die größten Forscher der Zeit ist. Letzten Endes hat das Prinzip, die wissenschaftliche Vernunft in den Dienst einer Prophezeiung zu stellen, nichts Geheimnisvolles. Man nannte es schon das Autoritätsprinzip, von ihm werden die Kirchen geleitet, wenn sie die wahreVernunft einem toten Glauben und die Freiheit des Geistes der Erhaltung der zeitlichen Macht unterstellen wollen. 87
    Am Schluss bleibt von Marxens Prophezeiung, die sich nunmehr gegen seine beiden Prinzipien, Wirtschaft und Wissenschaft, erhebt, nur die leidenschaftliche Ankündigung eines langfristigen Ereignisses übrig. Die einzige Zuflucht der Marxisten ist die Behauptung, die Fristen seien einfach länger und man müsse erwarten, dass