Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
zieht der Mentor seiner Jugend, Jean Grenier, aus Algier fort. Camus schreibt ihm am 18 . Juni 1938 zum Abschied einen langen Brief, in dem er seine Seele bloßlegt. Er sei, beginnt er, nicht einverstanden mit dem Leben, das er führe, und nicht einmal sicher, ob er überhaupt ein Intellektueller sei – «quelqu’un qui pense», jemand, der denkt. Am Denken interessierten ihn nur die Würze, die Leichtigkeit, das Paradox und die Geschmeidigkeit, und das widerspreche jeder intellektuellen Rechtschaffenheit. Ob er nicht besser Schauspieler werden solle, nur wo? In Paris? Dort schätzt er seine Chancen gering ein. Er beschreibt sich als einen Mann, der vor dem Leben wegläuft und doch auf dessen Versuchungen hereinfällt. In ihm sei eine Bereitschaft zum Rückzug und zum Misstrauen, die alles verderbe, und wenn seine bisherigen Werke einen gezwungenen Ton hätten, so liege dies daran. Er strebe nach mehr Klarsicht – «lucidité». Das Glück zu suchen, hält er für unmöglich, es bleibe immer jenseits des Beabsichtigten. Und er fährt fort:
«Ich bin 25 Jahre alt, habe genug Erfahrung für dieses Alter (vor allem sehr vielfältige Erfahrungen) und, wie ich glaube, ein sehr klares Bewusstsein meiner Fehler. Mein Universum, wenn ich überhaupt eines habe, ist eine harte Welt, ohne Rücksicht. Sie setzt sich aus meinem Charakter und meinen Lebensumständen zusammen. Daraus folgt, dass ich mich selber nicht leicht betrügen kann. Deswegen weiß ich auch, dass es in mir nicht viele Dinge gibt, um derentwillen ich es verdiente, glücklich zu sein. Sie haben völlig recht, wenn Sie von meiner Anmaßung sprechen. Sie ist aber das Verletzlichste in mir.» [91]
Ein Abschiedsbrief nicht nur an Grenier, auch an sich selbst, einen jungen Mann, der auf die Welt mit ausgebreiteten Armen zulief. Bald wird Camus nach Paris gehen und dort das Meer und das einfache Leben an den Küsten vermissen. Er wird diesen Jahren wie einem verlorenen Paradies nachtrauern und später als berühmter Autor in einem kurzen, «Das Meer» genannten Text schreiben:
«Ich wuchs am Meer auf, und die Armut schien mir kostbar; dann verlor ich das Meer, und aller Luxus erschien mir fortan grau und das Elend unerträglich. Seither warte ich. Ich warte auf die Schiffe der Rückkehr, auf das Haus der Gewässer, auf den hellen Tag. Ich gedulde mich, ich bin höflich mit allen meinen Kräften. Man sieht mich durch schöne, gescheite Gassen gehen, ich bewundere Landschaften, klatsche Beifall wie alle, schüttle Hände und bin es nicht, der redet. […] Manchmal wache ich in der Nacht auf und glaube, noch halb im Schlaf, das Geräusch der Wellen zu hören. Ganz erwacht merke ich, dass es der Wind in den Blättern war und das unselige Lärmen der öden Stadt. Dann brauche ich meine ganze Kunst, um meine Enttäuschung zu verbergen oder sie modisch zu verkleiden.» [92]
5. Kapitel Das Elend
Ort und Zeit:
Algier 1938 . Kabylei 1939 . Deutschland fällt in Polen ein, 1 . September 1939 .
Lokalreporter
Pascal Pia ist fünfunddreißig Jahre alt und ein erfolgreicher Pariser Journalist, als ihn ein Telegramm aus Algier erreicht: «Die Sache ist abgemacht. Stelle Sie 1 . September ein. Herzlich Faure».
Der Absender ist der Agraringenieur Jean-Pierre Faure, der in Algier eine linke, undogmatische Tageszeitung herauszugeben plant, den
Alger républicain
. Pascal Pia soll der Chefredakteur werden. Pia zögert. Er ist Nachrichtenchef der kommunistischen Pariser Tageszeitung
Ce Soir
, ein guter Freund von André Malraux. Von Algerien hat er nicht die geringste Ahnung, und er liebt Paris. Doch eine Edition frivoler erotischer Texte des 18 . Jahrhunderts hat ihm dort Ärger eingebracht. Er sucht Abstand von den Literatenzirkeln im Quartier Latin. So trifft er im Sommer 1938 mit Frau, Kind und sehr vielen Büchern in Algier ein. Sein Auftrag: die Gründung einer Tageszeitung im Geist der Volksfront.
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Die Journalisten Albert Camus und Pascal Pia
Pia sucht junge Mitarbeiter. Seine finanziellen Mittel reichen nicht aus, professionelle Journalisten zu engagieren, und Faure empfiehlt einen gewissen Albert Camus. Der schreibe, mache Theater und arbeite gegenwärtig im meteorologischen Institut, wo er Luftdruckdiagramme redigiere. Er habe einige Artikel im
Alger
-
Étudiant
, der hiesigen Studentenzeitschrift, veröffentlicht, außerdem einige Essays in winzigen Auflagen bei der Verlagsbuchhandlung «Aux vraies richesses» von Edmond Charlot
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